Süddeutsche Zeitung

Kinderlyrik:Wenn's im Zimmer regnet

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Die "Kindergedichte" des Francesco Micieli.

Von Klaus Hübner

"Gedichte sind unsere Kinder", sagt die große russische Lyrikerin Marina Zwetajewa. "Unsere Kinder sind älter als wir, weil sie länger, weiter leben. Sie sind von der Zukunft her älter als wir. Deshalb sind sie uns manchmal auch fremd". Die Kindergedichte des in Italien geborenen Berner Schriftstellers, Dozenten und Musiktheatermachers Francesco Micieli handeln, und das ist nicht unbedingt selbstverständlich, zuallererst von Kindern - falls Gedichte überhaupt von etwas handeln können. Aber sie sind nicht für Kinder geschrieben, jedenfalls nicht nur. Es sind Sätze, "so gesetzt, wie ein spätes Kind sie setzen würde", erläutert ihr Autor. Sätze gerade auch für Erwachsene, die ja manchmal, vor allem wenn sie alt sind, "wie kleine / Kinder in zu großen Körpern" wirken.

Der Dichter, der bisher stets die Prosaform bevorzugt hat, ist auch mit den bedeutenden Lyrikern des 20. und 21. Jahrhunderts vertraut - kein Zufall demnach, dass er Charles Simic, Wislawa Szymborska und andere Poeten erwähnt. Micieli gelingt es tatsächlich, mit meist knappen, prägnanten Gedichten die großen Fragen des Menschseins an kleinen Dingen und Momenten des Alltags zu erörtern. Oder vielmehr: die großen Fragen, so wie sie vielleicht von kleinen Menschen gestellt werden könnten, mit den wichtigen Themen des Lebens kurzzuschließen. Warum bleibt nicht alles so wie es ist? "Das Kind könnte nicht / Sterben; noch viel weniger die Eltern / Was sollte das Kind ohne sie / Weshalb sterben / Wenn Leben so klar / Bestünde aus dem, was ist / Das Kind wüsste das Zauberwort / Gegen den Tod" (Alles würde bleiben)? Wer eigentlich ist Gott (Fünf mal Gott)? Gibt es Wunder (Wunder)? Kann ich mich nicht einfach in etwas anderes verwandeln (Super Markt)?

Francesco Micielis Umgang mit der sogenannten Realität und der unmittelbaren Umwelt, vor allem aber sein Umgang mit der deutschen Sprache oder vielmehr den europäischen Sprachen ist grundsätzlich spielerisch - und genau deswegen ernst. Die Dialektik von Spiel und Ernst charakterisiert zum Beispiel das Gedicht "Regen": "Wenn der Regen / Ans Fenster klopft / Und die Welt darin / Verschwindet / Als würde er alles Feste / Auflösen / Ist es schön, unter das Bett / Zu kriechen und so zu tun / Als regnete es auch im Zimmer." Der unkonventionelle Blick, die ständigen Perspektivwechsel und die Behutsamkeit ihrer Annäherungen an Kernfragen des Lebens machen das Besondere der lyrischen Gebilde Francesco Micielis aus. Seine Kindergedichte sind Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitsgedichte. Oder Staungedichte. Das Staunen ist ihr wichtigstes Kennzeichen. Wer im Lauf der Zeiten das Staunen verlernt hat, kann solche Texte nicht schreiben. Lesen aber schon. Um mit ihnen das Staunen neu zu lernen. Vielleicht.

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Quelle:
SZ vom 10.05.2019
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