Süddeutsche Zeitung

Kinderleben:Dreizehn sind im Krieg

Ein Gedankenexperiment zum Leben der Kinder auf der ganzen Welt. Mit Antworten darauf, wie viel Kinder in die Schule gehen, mit wem und wie sie leben, was sie essen und wie sie die Freizeit verbringen. Und wie viele von ihnen auf der Flucht sind.

Von Renate Grubert

In diesen Tagen, in denen der Begriff "Normalität" zum Fremdwort wird, in denen uns so viele Sorgen um die Zukunft umtreiben, tut es gut, den Fokus auf die zwei Milliarden Menschen zu lenken, die unsere Zukunft sind: die Kinder unserer Welt. Tatsächlich ist ein knappes Viertel aller lebenden Menschen unter 15 Jahre alt! Was wissen wir wirklich über ihr Leben, ihre Gewohnheiten? Christoph Drösser stellt in "100 Kinder" genau diese Fragen und beantwortet sie auf ebenso raffinierte wie beeindruckende Weise - durch ein Gedankenexperiment. Das funktioniert erstaunlich unkompliziert, indem die riesengroßen abstrakten Zahlen über Kinderleben weltweit auf 100 Kinder "umgelegt" und so, dank des Rechenexempels, auf griffige, vorstellbare Werte heruntergebrochen werden. Fangen wir mit dem Einfachsten an. Von 100 Kindern leben heute nur sechs in Europa, vier in Nordamerika, acht in Südamerika, ein einziges Kind in Australien und Ozeanien - aber 25 in Afrika und 56 in Asien. Eine einführende doppelseitige Übersichtskarte zeigt anhand von signifikant gezeichneten Kinderfiguren, die wir vom Cover her schon kennen und die uns auch weiterhin durchs Buch begleiten werden, diese Ungleichverteilung quer über die Kontinente. Sorgsam setzt Designerin Nora Coenenberg die jeweiligen Zahlenwerte in Infografiken um, sodass wir sie mit einem einzigen Blick erkennen und unsere Schlüsse ziehen können. Sie holt so ins Bild, was Christoph Drössers vielfältige, in sechs Großkapitel angelegte Analyse in Worten ausführt.

Kinder wollen wissen, wie und mit wem andere Kinder leben, ob sie zur Schule gehen, was sie essen und wie sie ihre Freizeit verbringen - wenn sie denn welche haben (zehn Kinder arbeiten, fünf leben auf der Straße, eines ist auf der Flucht). So lesen wir erstaunliche Fakten neben solchen, die uns eher vertraut erscheinen. Zum Beispiel leben fast die Hälfte aller Kinder in Städten, haben ein Fahrrad und können daheim ins Internet gehen. Aber: Genauso viele wurden im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt. Und weniger als 50 Prozent werden lesen und schreiben lernen oder leben in einer Demokratie. 13 Kinder müssen Krieg aushalten, 16 haben keine Schuhe, 16 sind übergewichtig, 75 können nicht schwimmen, 100 lieben die Musik!

Christoph Drösser untermauert seine Zusammenstellung mit Texten, die sich für Kinder leicht und eingängig lesen, mal den Blick in die Geschichte rückwärts werfen, mal den Ausguck in die Zukunft wagen. Vor allem ist ihm wichtig, die Zusammenhänge klarzumachen, nicht einfach "nackte" Fakten aufzulisten. Wenn also zehn Kinder arbeitslose Eltern haben oder 20 Kinder mit nur einem Elternteil zusammenleben, beschreibt er, was das für die Familien bedeuten kann. Am Schluss erklärt er, woher das Zahlenmaterial stammt, das hier als Grundlage herangezogen wurde. Ein Gedankenexperiment, aber ein überzeugendes Handbuch über das aktuelle Kinderleben weltweit. (ab 9 Jahre)

Christoph Drösser: 100 Kinder. Mit Illustrationen von Nora Coenenberg. Gabriel Verlag, Stuttgart 2020. 104 Seiten, 14 Euro.

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Quelle:
SZ vom 05.06.2020
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