Kindergeschichte:Jimmy Riesentöter

FEU

Iain Lawrence: Der Riesentöter. Aus dem Englischen von Alexandra Ernst. Freies Geistesleben, Stuttgart 2017. 352 Seiten, 19 Euro.

Der Sieg der Fantasie, die Geschichte eines tapferen Jungen, der den bösen Riesen besiegt, hilft einer Gruppe von poliokranken Kinder gegen ihre schwere Krankheit.

Von Verena Hoenig

Sieht Laurie Narzissen, zertrampelt sie sie zu Matsch. Für die elfjährige Halbwaise bedeuten die gelben Blumen den Beginn der warmen Jahreszeit und damit der Polio-Saison. Ab sofort heißt es: kein Draußenspielen, kein Schwimmbad, kein Kino. Stattdessen nur langweiliges Zu-Hause-Dahinvegetieren. Nordamerika im Jahr 1955. Sehnlichst warten die Menschen auf einen Impfstoff gegen die tückische Viruskrankheit. Seit Jahrzehnten wüten Polio-Epidemien und versetzen ganze Städte in Panik. Die Seuche, die häufig Lähmungen der Gliedmaßen verursacht, befällt vor allem Kinder. Manche sterben am ersten Tag der Infektion, die meisten innerhalb der ersten drei Wochen. Ein Teil der Überlebenden muss fortan Beinschienen tragen und Krücken benutzen. Wieder andere, bei denen die Viren die Atemmuskulatur befallen haben, werden in sogenannte Eiserne Lungen gesteckt, mechanische Beatmungsgeräte, die Metallsärgen ähneln und aus denen nur der Kopf herausragt. Wenn die Patienten Glück haben, bilden sich die Lähmungen zurück, und sie können ihre stählerne Lunge nach einigen Wochen oder Jahren wieder verlassen. Andere bleiben ihr ganzes Leben in der Maschine gefangen, zur Bewegungslosigkeit verdammt - ein Albtraum ohne Erwachen.

Laurie weiß über die Kinderlähmung Bescheid, da ihr Vater Spenden für eine Stiftung sammelt, die den Kampf dagegen aufgenommen hat. Als sich Lauries achtjähriger Freund Dickie mit Polio infiziert, muss auch er künstlich beatmet werden. Obwohl Lauries Vater ihr den Gang ins Krankenhaus verbietet, besucht sie Dickie und ist schockiert, als sie den Beatmungsraum das erste Mal sieht - und hört. Denn die Stahlröhren zischen und sirren unablässig. Von jetzt an kommt Laurie täglich auf die Poliostation. Neben Dickie liegen Chip und Carolyn. Die 14-jährige Carolyn ist verbittert; sie steckt bereits seit acht Jahren in der Eisernen Lunge. Die Köpfe der drei sind so unbeweglich, dass sie nur an die Decke starren können. Spiegel, mit deren Hilfe sie lesen oder Besucher sehen können, sind daher eine wichtige Verbindung zur Außenwelt. Weil Laurie als einsames Kind mit und in Geschichten lebt, beginnt sie den Kranken zur Aufheiterung vom Riesentöter zu erzählen: ein archaisch anmutendes Abenteuer, das von dem winzigen Jimmy handelt, der auszieht, um den randalierenden Riesen Collosso unschädlich zu machen.

Schnell lassen sich die drei Patienten von der Geschichte forttragen. Ja, sie verschmelzen geradezu mit ihr und identifizieren sich mit den auftretenden Figuren. Besonders Dickie, der jüngste und schwächste, aber auch fröhlichste unter ihnen, gewinnt mit seinen Kommentaren die Sympathien des Lesers. Dann bekommt Laurie als eine der Ersten das lang ersehnte Antiserum gespritzt, worauf die Handlung eine unerwartete Wendung nimmt, die einem das Herz stocken lässt.

"Der Riesentöter ", von Alexandra Ernst vortrefflich übersetzt, ist ein aufwühlender Roman, der den Leser fesselt. Er erzählt von einem weitgehend unbekannten Kapitel der Medizingeschichte und wie es mit der Macht der Fantasie gelingt, die kranken Kinder zu trösten und Zusammenhalt und Solidarität zwischen ihnen zu fördern. Meisterhaft verzahnt der kanadische Autor Iain Lawrence die beiden Erzählebenen miteinander und rückt die bewundernswerte Tapferkeit der jungen Patienten in den Mittelpunkt. (ab 11 Jahre)

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