Süddeutsche Zeitung

Kinderbuch:Wer keinen Regen braucht

Für drei jüdische Kinder, die in Bochum leben, verändert sich ihre Freundschaft nach der Pogromnacht am 9. November 1938.

Von Franziska Augstein

Die Freunde - drei Mädchen und ein Junge namens Leon - leben in Bochum. Es ist das Jahr 1938. Bloß eines der vier Kinder, Hildegard, hat in den Augen der Nazis einen Wert für die "Volksgemeinschaft". Die übrigen sind Juden. Andrea Behnke erzählt, wie es war, als jüdisches Kind in Bochum das Jahr 1938 zu erleben. Ihr Buch ist für alle geschrieben, die zehn Jahre und älter sind.

Die Geschichte handelt von drei Schulkameradinnen, die ihre Freundschaft besiegeln, indem sie Armbänder anlegen, die eine von ihnen, Liselotte, aus Stoffresten genäht und mit Knöpfen versehen hat (daher der Titel: "Die Verknöpften"). Der Stoffladen der Eltern Liselottes darbt. Der Slogan "Kauft nicht bei Juden!" hat sich herumgesprochen. Und so schnell, wie die zarten Bänder verschleißen, macht die NS-Politik die Freundschaft unmöglich: Hildegards Mutter verbietet ihrer Tochter, die jüdischen Freundinnen zu treffen. Liselottes sprießende Kinderliebe zu Leon wird jäh abgewürgt, weil er mit seinen Eltern nach Amerika emigriert. Das Grauen kommt in Liselottes Zuhause in Gestalt von Männern, die unter lautem Brüllen die Einrichtung des Geschäfts kaputtmachen. Die Synagoge wird angezündet, und kein Feuerwehrmann hilft. Seit der Pogromnacht vom 9. November ist der Vater nicht mehr er selbst: "Papa ist irgendwo in sich." Die Mutter, die sich um Essen und alles andere kümmert, "ist wie eine Blechfigur", die jemand "aufgezogen hat".

Andrea Behnke erzählt das alles mit reichhaltigem, farbigem Vokabular. Nebenbei fügt sie jiddische Wörter ein, jiddische Lieder, und um typisch jüdisches Essen geht es auch. Weil Behnke aus Sicht der kleinen Liselotte erzählt, gelingt ihr das, ohne belehrend zu wirken. Die Mutter nennt ihre Tochter liebevoll "majn kneijdl": "mein Knödel". Das Knödelchen hat Freude am Singen. Als ihr junger Freund gen Amerika entschwunden ist, geht ein jiddisches Liebeslied ihr nicht aus dem Sinn: "Tumbalalaika". Darin fragt ein Junge ein Mädchen, was ohne Regen wachsen könne.

Die ganze Geschichte hat einen wahren Kern. Die Bochumer Schule und die Lehrerin, die Englisch und Hebräisch lehrte, damit fiktive Gestalten wie Leon in Amerika oder Palästina Fuß fassen könnten, hat es gegeben. Die Lehrerin hieß Else Hirsch. Das Buch ist für Elfjährige gedacht. Als ich elf Jahre alt war, liebte ich Abenteuer- und Indianergeschichten, habe allerdings alles gelesen, was Erwachsene mir gaben. Und dieses Buch hätte mich gepackt, hätte mich gefühlsmäßig angefasst - jedenfalls nach einer hohen Hürde: dem kurzen, abschreckenden Eingangskapitel. Das spielt im Ghetto von Riga, wohin Else Hirsch 1942 deportiert wurde. Es ist vermutlich eine Hommage an Else Hirsch, ist zum Einstieg in eine Geschichte aber ungeeignet; es eröffnet nicht den Blick auf das Kommende, sondern vermittelt bloß eine vage Idee von großem Leid. Die Leser dieses empfehlenswerten Buches sollten die ersten drei Seiten überschlagen.

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SZ vom 28.06.2021
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