Historisches Sachbuch:Auf dem Weg zu sich selbst

Theseus und Co.: eine Geschichte der Labyrinthe und Irrgärten.

Von Harald Eggebrecht

Historisches Sachbuch: Illustration aus Silke Fry, Finn Dean: Das Buch der Labyrinthe und Irrgärten.

Illustration aus Silke Fry, Finn Dean: Das Buch der Labyrinthe und Irrgärten.

"Mein Lebensweg geriet ins Dürre", sinniert Shakespeares Macbeth im 5. Akt des Dramas. An wie vielen Weggabelungen hätte er sich anders entscheiden können, doch am Ende wählte er immer den Pfad in den Untergang. Das Leben entweder als Irrgarten oder als Labyrinth, also als womöglich tragisches Verwirrspiel oder als letztlich stimmiger Weg von Anfang bis zum Ende trotz aller Wendungen, vermeintlicher Rückwärtsbewegungen und Zielirritationen? Wer ins Buch von Silke Vry (Text) und Finn Dean (Illustration) einsteigt, wird überrascht von der Vielfalt der Labyrinthe in aller Welt. Mit erfreulich leichter Hand gelingt es Vry/ Dean, ihr Buch zu einem assoziationsreichen Wegenetz durch gebaute und gewollte Irrungen und Wirrungen auszuformen. Dazu gibt es auch ganz praktische zeichnerische Anweisungen zur Konstruktion von Labyrinthen und Irrgärten.

Dass Theseus aus diesem Labyrinth, das der geniale Erfinder Daidalos ersonnen und gebaut hatte, wieder herausfand, hatte er Ariadne, Tochter von König Minos, zu verdanken

Für Europäer ist natürlich jenes legendär, in dem einst auf Kreta der Minotauros, halb Stier halb Mensch, gefangen gehalten wurde, dort alle neun Jahre sieben Jungen und sieben Mädchen aus Athen zum Opfer bekam, bevor ihn Theseus tötete. Dass Theseus aus diesem Labyrinth, das der geniale Erfinder Daidalos ersonnen und gebaut hatte, wieder herausfand, hatte er Ariadne, Tochter von König Minos, zu verdanken. Sie gab ihm ein Fadenknäuel mit, an dem er sich orientieren konnte. Streng betrachtet aber gibt es auch für dieses Labyrinth nur einen Weg, auf dem man hinein, aber auch wieder heraus kommt. Letztlich hätte auch der Stiermensch so hinausfinden können.

Diese Idee des einen Weges zu einem Ziel unbeschadet der Wirrungen und Kehren prägt alle Labyrinthe, wie sie seit ältester Zeit in Felsen geritzt, mit Steinen gelegt wie etwa bei den Hopi-Indianern oder in die Böden französischer Kathedralen eingelassen wurden. Bei den Alten waren es sieben Umgänge, bei den Christen dann elf. Wer sich ins Labyrinth hineinwagt, unbeirrbar bis zum Ziel geht und wieder zurückkehrt, begegnet jedoch nicht Ungeheuern und Schreckgestalten, sondern einer ihm bekannten Person: sich selbst. Labyrinthe dienen in de Konsequenz der Selbstfindung und der inneren Klärung.

Irrgartenanlagen dagegen leben von Abzweigungen, Weggabelungen, Sackgassen und anderen Irritationen in der Wegführung. Hier geht es nicht um meditative und spirituelle Selbstfindung, vielmehr dienen Irrgärten seit der Renaissance dem Vergnügen an Versteck- und Suchspielen. Säumten anfangs Blumen und Büsche die Wege, so wurden im Barock daraus hohe Heckenwände, die jeden Überblick über die Anlage unmöglich machten.. Verbergen, Suchen, Finden - dieser Dreischritt erotischer Verwicklungen prägte die Irrgärten vor den Schlössern des Barock und Rokoko. Vry/ Dean zeigen en passant, dass die Natur keine gerade Linie kennt, sondern im Großen wie Kleinen die Spirale bevorzugt, oder dass Schreiben und Lesen labyrinthisch werden kann. Das wohl größte, dabei trotz aller Wissenschaft stets unfassbar geheimnisvolle Labyrinth ist aber jenes, das sich dergleichen ausfantasieren, installieren, sich darin verlieren und doch wieder herausfinden kann: unser Gehirn. (ab 10 Jahre)

Silke Vry, Finn Dean: Das Buch der Labyrinthe und Irrgärten. Prestel, 2021. 93 Seiten, 25 Euro.

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