Süddeutsche Zeitung

Kinderbuch:Kompost und Ritterbücher

Lesezeit: 2 min

Zwei Kinder schaffen sich ihre eigene Welt, der introvertierte Ware und die mutige, tapfere Jolene.

Von Verena Hoenig

Zwei Kinder verbringen die Ferien auf dem verlassenen Grundstück einer halb verfallenen Kirche und schaffen sich dort ihre eigene Welt, fern der Aufsicht von Erwachsenen. Jolene hat keine Eltern mehr, und die alkoholkranke Tante ist nur froh, wenn sie die Nichte aus den Augen hat. Ware gibt vor, im städtischen Sommerlager zu sein, das direkt neben der Kirche liegt. Weil seine Mutter und sein Vater gerade Doppelschichten arbeiten, fliegt der Schwindel nicht auf.

Die beiden Elfjährigen, die sich hier zufällig begegnen, könnten gegensätzlicher nicht sein: Die abgeklärte, knallharte Jolene mit ihren "Schießschartenaugen" verzieht kaum jemals eine Miene und erwartet nichts Gutes im Leben. Aber dass eine einzige vergammelte Papaya zweihundertsechsunddreißig Samen enthält, begeistert sie. Jolene hat den Ehrgeiz, daraus Pflanzen zu ziehen, um mit den Früchten Geld zu verdienen, da ihr Zuhause auf dem Spiel steht. Ware ist ein nachdenklicher, stiller Junge, der gerne allein ist. Nur dann löst sich die Anspannung, unter der er immerzu steht. Er ist extrem mitfühlend und hasst alles Laute. Das behütete Einzelkind hätte nichts dagegen, den ganzen Sommer lang in der Bibliothek zu sitzen und Bücher über Ritter zu lesen - was ihm natürlich verwehrt wird. Mit anhören zu müssen, dass seine Eltern ihn für "nicht normal" halten, hat Ware bis ins Mark verletzt. Er ist es gewohnt, von der Umgebung als Träumer belächelt oder sogar verspottet zu werden, aber das elterliche Urteil schmerzt mehr. Während Jolene sich um ihre Pflanzen kümmert und Kompost produziert, baut Ware einen Wassergraben, eine Sonnenuhr und legt ein Mosaik aus bunten Glasscherben, die von einem Fenster der Kirchenruine stammen. Zum ersten Mal ist er rundum glücklich.

Die Kinder - zu denen später noch Ashley stößt - brauchen diesen Ort für ihr seelisches Gleichgewicht und nehmen dafür Staub, Hitze und Mückenstiche in Kauf. Sie verwandeln das Stück Land in eine Obstplantage, eine Burg und einen Zufluchtsort für Vögel. Jolene glaubt: "Im echten Leben, da passieren schlimme Sachen." Und sie scheint recht zu haben mit ihrer pessimistischen Weltsicht. Das Grundstück droht versteigert zu werden. Doch jetzt kann Ware sich endlich ritterhaft im "Kampf gegen Ungerechtigkeit" beweisen, seine blühende Vorstellungskraft hilft ihm dabei.

Dass Kinder im Einsatz für andere über sich hinauswachsen, ist ein beliebtes Genremotiv. Sara Pennypacker erzählt davon auf unerwartete Weise und extrem packend. Sie vereinfacht nicht und biedert sich ihren Lesern niemals an. In einem Interview bekundet die Autorin, selbst ein introvertiertes Kind gewesen zu sein. Solche Mädchen und Jungen würden ihre ruhige Art als vermeintliche Schwäche oft verstecken. "Ich hoffe, die Welt lernt, Introvertierte und ihre Fähigkeiten mehr zu schätzen." (ab 10 Jahre)

Sara Pennypacker

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Quelle:
SZ vom 07.05.2021
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