Politisches Sachbuch:Streifzüge auf dem Schwarzmarkt

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(Foto: Verlag Oetinger/dpa)

Drei Jugendliche im Chaos der Nachkriegszeit in Hamburg

Von Roswitha Budeus-Budde

Kirsten Boies neuer zeitgeschichtlicher Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch", spielt in Hamburg im Frühsommer 1945. Seit Kriegsende versucht die Bevölkerung unter englischer Besatzung zwischen Ruinen zu überleben, darunter drei Jugendliche: Jakob, dessen jüdische Mutter in einem der letzten Transporte nach Theresienstadt geschafft wurde (aber überlebt) -, er wird von einem alten Mann versteckt und weiß noch nicht, dass der Krieg beendet ist. Als sein Helfer nicht mehr auftaucht, muss er sein Versteck in der Ruine verlassen, um nicht zu t verhungern. Er trifft auf Traute, die Tochter eines Bäckers, und stiehlt ihr heimlich das Brot, das sie für die Jungs auf der Straße als Bestechung mitbringt. Ihre Freundinnen kamen durch Bomben um, oder verschwanden in den Wirren des Krieges, und sie will einfach nur, weil sie einsam ist, mit den Jungen Fußball spielen. Unter ihnen Hermann, der immer noch seine HJ-Uniform trägt und sich um seinen Vater kümmern muss, der beinamputiert, in seiner Verzweiflung der Familie das Leben schwer macht. Damit nimmt er ihm die Aussicht auf einen Neuanfang in den USA .

Sie will für ihre Leser ihre eigenen Gefühle, ihre Erlebnisse jetzt, 70 Jahre später, lebendig machen.

Diese Jugendlichen begegnen einander zufällig in einer Woche, Ende Juni 1945. Sie sind geprägt ihren Kriegserfahrungen und Traumata und machen gemeinsam ihre besonderen Erfahrungen im Chaos der Hamburger Nachkriegszeit. Kirsten Boie lässt sie, als Identifikationsfiguren, ohne Einfluss der Erwachsenen selbst erzählen, - in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, in der sie die Möglichkeit als Erzählerin nutzt, ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben.

Sie will für ihre Leser ihre eigenen Gefühle, ihre Erlebnisse jetzt, 70 Jahre später, lebendig machen, die sie schon 2003 in "Monis Jahr" und 2010 in "Ringel Rangel Rosen" beschrieben hat. "Bei mir verwandelt sich alles, was mich bewegt, schnell in Geschichten." In einem Interview erzählt sie , dass sie bei den Gesprächen der Erwachsenen "über den Krieg, die Bombennächte und die Hungerzeit" zuhörte, aber damals nichts über die Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere die Shoah in Hamburg erfuhr. Und darum spielt jetzt Jakob, als ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Hamburg eine wichtige Rolle. Der, als er beim Versuch Essen zu stehlen von den Kindern entdeckt wird, seine jüdische Identität verschweigt und sich mit Hermann anfreundet, der immer noch der NS-Ideologie anhängt. Erst als er die wahre Herkunft von Jakob erkennt - mit dem er bei Streifzügen auf dem Schwarzmarkt versucht, an Lebensmittel zu kommen -, mit der Realität der Judenverfolgung konfrontiert wird.

In Hermann schildert Kirsten Boie einen Vertreter des Fortlebens nationalsozialistischen Gedankenguts, das sie beunruhigt, besonders bei den heutigen Jugendlichen "die in immer größerer Zahl und in immer jüngerem Alter eine Bewunderung für den Nationalsozialismus, sogar für den zweiten Weltkrieg, entwickeln, weil sie sich in alterstypischen Grandiositätsfantasien als Eroberer und Herrscher der Welt sehen". (ab 13 Jahre und Erwachsene)

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger, 2022. 192 Seiten, 14 Euro.

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