Kinderbuch:Den Indianer im Kind töten

Zwei kanadischen Kindern aus dem Stamm der Cree, die in ein Umerziehungslager verschleppt wurden, gelingt die Flucht. Es wird ein gefährliches Abenteuer, das sie überleben.

Von Regina Riepe

Rabenfrau, so nennen die Mädchen heimlich die strenge Nonne in ihrer schwarzen Ordenstracht, die abends durch den Schlafsaal geht und Strafen verteilt. Alles ist verboten: sich zu bewegen, zu weinen oder gar miteinander zu reden. Die Sprache des Volkes der Cree ist Teufelswerk! Auch Alice Littlebird hat das zu spüren bekommen. 100 Meilen von ihrer Familie entfernt ist die Neunjährige hier in einer Residential School, weniger Schule als Umerziehungslager für die Kinder der First Nations, der Ureinwohner Kanadas. Zwangsweise, wie alle Kinder hier.

Diese sogenannten Schulen verfolgen offen das Ziel, "den Indianer im Kind zu töten". Kaum angekommen, wird Alice das schöne, lange Haar abgeschnitten, sie erhält Anstaltskleidung und wird nur noch mit einer Nummer gerufen. Nie wird sie sich damit abfinden, Nummer 43 zu sein und ihr Volk und ihre Sprache zu vergessen! Ihr Name erzählt davon, dass sie klein wie ein Vögelchen zur Welt kam. Littlebird nannten ihre Eltern sie deshalb. Doch nun ist sie stark und entschlossen. Sie will hier weg, nach Hause fliehen. Zunächst jedoch muss sie ihren Bruder Terry Springender Elch finden, der schon seit zwei Jahren in der Jungenabteilung des Internats lebt und den sie seitdem nicht mehr gesehen hat. Alice Littlebird trifft andere Mädchen, die sich heimlich widersetzen, obwohl der Alltag der Kinder mit Beten, schwerer körperlicher Arbeit und harten Strafen angefüllt ist. Und es gibt Verbündete, die ihr helfen und Menschlichkeit in diesem Zwangssystem zeigen. Nachdem beiden Kindern die Flucht gelungen ist, beginnt das eigentliche Abenteuer. Der Bruder lässt Alice Littlebird im Versteck auf einer unbewohnten Insel zurück, um ihre Fluchtwege zu verschleiern - und wird gefangen genommen. Tapfer kämpft sie nun allein ums tägliche Überleben. Vieles, was sie als Kind in der Familie gelernt hat, hilft ihr nun: ein Tipi bauen, essbare Pflanzen suchen, sich leise bewegen. Der Kampf gegen Einsamkeit und Verzweiflung ist genauso schwer wie der gegen wilde Tiere. Doch beide Kinder geben die Hoffnung nicht auf, auch Terry nicht, der einen erneuten Fluchtversuch vorbereitet. Es ist beeindruckend, von der Stärke der Kinder in diesem Zwangssystem zu lesen, von Solidarität und Hoffnung. Man hofft so sehr, dass die Jungen und Mädchen es schaffen auszubrechen. Grit Poppe hat einen spannenden Abenteuerroman geschrieben mit authentischem Hintergrund. Durch das positive Ende und die empathische Schilderung der Kinder ist das Buch hoffnungsvoll und ermutigend. Solche Residential Schools gab es in Kanada bis 1996, und auch in den USA oder Australien wurden Kinder der Ureinwohner gewaltsam ihren Familien entrissen und umerzogen. Doch trotz aller Gewalt schafften es überall Kinder wie Alice Littlebird und Terry Springender Elch, ihre Würde und Identität zu bewahren und füreinander da zu sein. Ein empfehlenswertes Buch für neugierige Kinder, das Mut macht, sich auf die eigene Stärke zu besinnen. (ab 11 Jahre)

Grit Poppe: Alice Littlebird. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2020. 238 Seiten, 15 Euro.

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