Kim Petras sitzt auf einem Drehteller. Sie trägt einen pinken Lackbody, kniehohe ebenso pinke Stiefel und wirbelt ihren langen hellblonden Zopf um sich. Sie singt ihren Song "Death by Sex", mit einem Text, der Sigmund Freud stolz machen würde: "Oh, death by sex / Oh, death by sex / Yeah, sex, sex, sex / Yeah, death by, death by sex". Der Drehteller dreht sie nach vorne, sie verschränkt die Knöchel kurz, dann öffnet sie die Beine, das Scheinwerferlicht leuchtet ihr in den Schritt, ihre ganze Vorderseite strahlt kurz gleißend, das Publikum juchzt.
Die Bewegung, mit der sie die Beine öffnet, ist zugleich ruckartig und geschmeidig. Auf die Sekunde abgestimmt, mit einem kurzen Blick zum Lichttechniker, hat sie nichts Obszönes. Sie ist eine Demonstration von Können, Timing und, ja, Witz. Und der Witz geht so: "Genau, wenn ihr denkt, dass ihr alles von mir seht, seht ihr - nix."
Alben der Woche:Man kriegt den Jungen aus dem humanistischen Gymnasium ...
... aber das humanistische Gymnasium eben nicht aus ihm. Prinz Pi veröffentlicht gleich zwei neue Alben. Die furchterregendste Musik kommt aber von Huey Lewis And The News.
Die geborene Kölnerin ist in den USA ein Star, wird dieses Jahr auf dem Coachella spielen, dem meistbeachteten Popfestival der Gegenwart, und bald tourt sie mit Superstar Camila Cabello. Streams und Klicks, jene Währung, in der heute musikalischer Mainstreamerfolg gezählt wird, hat sie eine Menge. In der Sekunde, in der dieser Text am Freitag fertig wurde, hat ihr Hit "Heart To Break" auf Spotify exakt 29 891 903. Der Song, der ihr den Durchbruch verschaffte, "I Don't Want It At All", ist bei 25 626 829. Das sind sehr beruhigende Zahlen. Im Video zu "I Don't Want It At All", erschienen im Oktober 2017, betet sie zu Paris Hilton.
Paris Hilton, die Hotelerbin, hat in diesem Video einen glitzernden, vollgestellten Schrein in Kims Zimmer, vor dem Kim Petras kniet. Wofür betet sie? Geld. Geld und Designerklamotten, genau genommen. Die Video-Petras hat nämlich zwar drei Lover und deren Kreditkarten, aber die werden immer wieder abgelehnt, bis, gen Ende, im Dunst einer Nebelmaschine, die echte Paris Hilton aus dem Nebenzimmer kommt, Göttin des Shoppens, des Reichtums und der Freude, und Kim Petras eine funktionierende Kreditkarte schenkt.
Das Gebet gilt natürlich nicht nur Hilton, sondern einem ganzen Lebensstil, und dass dieses Video, diese Karriere, dieser Mensch so existieren, ist ein kleines Wunder. Ein schönes Wunder auch, selbst dann, wenn man persönlich nicht von Visitenkarten träumt.
Die jüngste Transsexuelle, die je geschlechtsangleichend operiert wurde
Kim Petras ist laut dem Daily Telegraph die jüngste Transsexuelle, die je geschlechtsangleichend operiert worden ist. Sie wusste schon als Kleinkind, als sie noch Tim hieß, dass sie ein Mädchen war, mit vier wollte sie sich "das Ding" abschneiden. Die Eltern suchten ärztlichen Rat, es folgten Hormonbehandlungen, Stern TV, eine Reportage auf Vox, die internationale Aufmerksamkeit auf sich zogen. Inzwischen lebt sie in L.A.
Dort begegnete sie einmal Caitlyn Jenner, die ihr sagte, sie habe "all ihre Dokumentationen angesehen". Im Juni vergangenen Jahres erschien Petras erstes Album, "Clarity", sie ist auf dem Cover der Magazine Galore und Notion, arbeitet mit Charlie XCX zusammen. Im Oktober folgt ihr zweites Album, "Turn Off the Light".
International klingende Musik, im Guten wie im Schlechten
Ihre Songs sind die Essenz dessen, wie Chartpop 2020 klingt - auf Hitfaktor und Tanzbarkeit komponiert, plüschig, elektrisch, eklektisch. Sie schreibt über "Jungs, Herzschmerz, Sex, Spaß haben und die Dinge, die ich durchmache". Wie kommt es, dass eine Sängerin, die in den USA ausverkauft, in Deutschland bislang noch nicht wirklich wahrgenommen wird? Vielleicht weil es im deutschen Popgeschäft immer noch selten ist, dass jemand Musik macht, die so international klingt - im Guten wie im Schlechten.
Beim Treffen in Berlin ist die Sängerin guter Dinge. Ein Fotograf fotografiert sie in einer Hotellobby. Sie riecht nach Haarspray und Tom Ford Tobacco Vanille, achtet darauf, allen Hallo zu sagen, seien es Assistenten, wartende Journalisten oder auch nur Gäste, die sich zufällig in die Szenerie verlaufen. Für jemanden, der schon so lange und kontrovers im Licht der Öffentlichkeit steht, ist Kim Petras erstaunlich normal. Eine warmherzige Rheinländerin. Wie es ihr jetzt geht, wenn sie sich die Dokus von damals anschaut?
"Ich bin stolz darauf, dass ich das gemacht habe. Ich hatte Glück, dass meine Eltern mich unterstützt haben. Es gibt ganz viele obdachlose Transgenderleute und die Selbstmordrate ist superhoch. Ich wollte eigentlich nur anderen Kindern helfen und zeigen, dass man ein normales Leben haben kann. Deswegen bin ich darauf sehr, sehr stolz. Gleichzeitig war es auch so ein bisschen ein Fluch, weil dann niemand über meine Musik reden wollte."
Ein Balanceakt zwischen Repräsentation und Verleugnung
In der Tat - in der aktuellen Atmosphäre ist ihre Selbstdarstellung in der Hinsicht ein schwieriger Balanceakt: Petras will sich für Transsexuellenrechte einsetzen. Redet sie darüber, führt das schnell dazu, dass ihre Geschlechtsangleichung das einzige ist, wonach sie gefragt wird. Redet sie nicht darüber, nimmt es ihr ihre Szene übel: "Als ich das Thema eine Weile nicht angesprochen habe, war die Transcommunity so: 'Die will nicht darüber reden, die will nicht Transsexuelle sein, der geht das am Arsch vorbei, was mit Transsexuellen passiert.' So ist es überhaupt nicht. Und ja, es ist das erste Mal, dass das jemand macht: Mainstreampop und transsexuell sein. Klar, es gab beim Eurovision Song Contest ein paar Leute. Aber ich habe ganz viele Sachen, die ich herausfinden muss und für die es keine Vorlage gibt."
Jeder, der einer diskriminierten Minderheit angehört, kämpft mit diesem Widerspruch. Es ist überlebenswichtig, sich gegen die ständige Zumutung der Zuschreibungen zu verwahren - die manchmal auch aus der eigenen Community kommen können. Aber die gesellschaftliche Realität zwingt einen gleichzeitig dazu, repräsentieren zu müssen, was man "ist". Wer sich dagegen radikal verwahrt, setzt sich dem Verdacht aus, unsolidarisch zu handeln und sich selbst zu verleugnen. Zwischen diesen Polen eine Spielwiese des unbeschwerten Lebens gedeihen zu lassen ist alles andere als einfach. Es erklärt vielleicht, warum Petras gerade die grellen Kunstwelten des Mainstreampops liebt - wer zu Paris Hilton betet, macht seinen ganz eigenen Quatsch, der einen schützend einhüllt wie eine Kaugummiblase.
"Ich habe mir einen Superhelden-Charakter aufgebaut"
"Ich habe am Anfang meiner Karriere immer Personae erstellt. Wie ich wollte, dass mein Leben ist. 'I Don't Want It At All' ist über Designersachen, darüber, alles zu bekommen, was ich will. Ich habe den Song auf einem Futon mit fünf anderen Mitbewohnern in einer superkleinen Bude in L.A. geschrieben. Ich habe mir eigentlich so einen Superhelden-Charakter aufgebaut - und jetzt mit meinen neuen Sachen drehe ich das um und mache eher wieder Musik, die komplett nur ich bin - für mich und für meine Fans."
Zwischen Zuschreibungen und Selbstrepräsentation Platz fürs eigene Leben zu schaffen ist schwierig. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum in der Queer-Community Mainstreampop so beliebt ist - der Markt verflüssigt alle Identitäten.
Im Pop ist deshalb die totale Wandelbarkeit und Selbstverständlichkeit aller Spielarten von Identität möglich.
Den Schrein für Paris Hilton gab es übrigens in Kim Petras altem Kinderzimmer wirklich - oder zumindest Wände für Paris Hilton und Britney Spears. Aber sie ist nicht dabei geblieben, ihre Götter anzubeten, sie ist hinaus in die Welt gegangen, um selbst eine Göttin zu werden. Wie sich herausstellt, bedeutet das vor allem harte Arbeit, aber Kim Petras ist auf dem Weg, der erste transsexuelle Weltstar zu werden. Oder, wie sie in "Death By Sex" singt: "You'll be missin' me / In the afterlife." Nicht nur da.