Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Die Technik okkupiert den Spieltrieb

Eine neue KI überzeugt im Computerspiel "Diplomacy", indem sie zwei Forschungsbereiche fusioniert: die Fähigkeit, Sprache zu verarbeiten, und jene, strategisch zu "denken".

Von Michael Moorstedt

Auf dem langen und steinigen Weg, den Menschen überflüssig zu machen, kam aus der KI-Forschungsabteilung des Facebook-Mutterkonzerns Meta kürzlich die Nachricht von einem weiteren erreichten Meilenstein. Eine neue KI könne "auf menschlichem Niveau" in "Diplomacy" überzeugen. Die Prämisse des hierzulande eher weniger bekannten Strategiespiels: Sieben Spieler brüten über einer Europakarte, die die Machtverhältnisse kurz vor dem Ersten Weltkrieg simuliert. Das Ziel ist natürlich einmal mehr totale Vorherrschaft.

Nun ist es nichts Neues, dass künstliche Intelligenzen menschliche Kontrahenten in vielen Spielen deklassieren. Schach oder Go kommen einem in den Sinn, genauso wie zahlreiche Videospiele. Doch während Schach oder Go nach klaren, wenn auch abstrakten Regeln funktionieren, geht es in Diplomacy vor allem um soziale Fähigkeiten. Über Sieg oder Niederlage entscheidet vor allem die Fähigkeit, Allianzen zu bilden und sich gegenseitig zu unterstützen oder zu hintergehen. Zugleich müssen die Spieler mit imperfekter Information agieren. Im Gegensatz zu Spielen, bei denen man alles über die Züge des Gegners weiß, machen die Spieler in Diplomacy Züge, ohne zu wissen, was ihre Gegner tun werden. Sie müssen daher die nächsten Aktionen ihrer Gegner vorhersagen.

Die KI entwickelt selbst eine Strategie

Das ist insofern beachtlich, weil durch das Wirken in Diplomacy eine Fusion von zwei Forschungsbereichen stattfindet, die im Feld der künstlichen Intelligenz bislang eher parallel zueinander abliefen: die Fähigkeit, Sprache zu verarbeiten, und jene, strategisch zu "denken". Die Cicero genannte KI könne, so heißt es in der Meta-Pressemitteilung, "zum Beispiel ableiten, dass sie später im Spiel die Unterstützung eines bestimmten Spielers braucht, und dann eine Strategie entwickeln, um die Gunst dieser Person zu gewinnen".

Die Meta-Forscher ließen ihre KI anonym an 40 Diplomacy-Partien teilnehmen, die online veranstaltet wurden. Im Verlauf von 72 Stunden Spielzeit schickte die Software mehr als 5000 Nachrichten an menschliche Spieler - und fast niemand bemerkte, dass er mit einer KI kommunizierte. Schlussendlich fand sich die KI in den besten zehn Prozent aller Spieler wieder.

Das alles ist natürlich keine Spielerei. Schon denken ganz verschiedene Menschen über ganz verschiedene reale Einsatzzwecke nach. Von einfachen Gehaltsverhandlungen über KI-Chatbots, die in der Lage sind, eine Konversation über mehr als einen Gedanken hinweg zu halten, bis hin zu neuen Marketing- und Verkaufsstrategien.

Angesichts der Möglichkeiten der Software fühlt sich der Mensch seiner Wirkmächtigkeit beraubt

Abseits solcher Banalitäten ist es verständlich, wenn der Gedanke an einen Computer, der in der Lage ist, die Überzeugungen, Ziele und Absichten anderer zu verstehen und durch Dialog Überzeugungsarbeit zu leisten und Beziehungen aufzubauen, kalte Schauer auslöst. Wovon es sicherlich nicht noch mehr braucht, sind Mittel und Wege, um im Internet noch mehr Lügen unters Volk zu bringen. Bei Meta hofft man beinahe rührend naiv darauf, dass andere Forscher in "verantwortungsvoller Weise" auf dem eigenen Programmcode aufbauen.

Und dann ist da natürlich noch eine andere Gefahr. Es gibt eine anthropologische Lehrmeinung, wonach der Mensch hauptsächlich dadurch zu seinem Selbst kommt, indem er spielt. Der Spieltrieb ist uns tief innewohnend, abseits von äußeren Zwängen und materiellen Bedürfnissen. Nur durch die spielerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entstehe überhaupt erst Kreativität und Innovation.

Vielleicht löst der Diplomatie-Roboter in menschlichen Diplomacy-Spielern eine ähnliche Sinnkrise aus, wie es einst bei dem Go-Profi Lee Sedol der Fall war, als er das erste Mal von einer KI auf die Bretter geschickt wurde. "Selbst wenn ich die Nummer eins werde, gibt es eine Entität, die nicht besiegt werden kann", sagte er damals. Angesichts der exponentiellen Möglichkeiten der Software fühlt sich der Mensch seiner Wirkmächtigkeit beraubt. Ist doch eh alles sinnlos.

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