Süddeutsche Zeitung

Sprachgebrauch:Scham macht verletzlich - sie schafft keine Likes

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Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles schämt sich Kevin Kühnert öffentlich für seine Partei. Er ist damit einer von vielen, die ein zutiefst privates Gefühl öffentlich missverstehen.

Von Theresa Hein

In Tagen, die ansonsten eher konsensfrei verlaufen, scheinen sich vergleichsweise viele Menschen auf eine Vorgehensweise einigen zu können: Wenn du dich für etwas schämst, dann tu es öffentlich. Den Satz "Ich schäme mich" äußern Politiker in öffentlichen Reden, in Talkshows oder auf Social Media. Frank-Walter Steinmeier schämte sich öffentlich für Äußerungen von AfD-Politikern, Cem Özdemir für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, Horst Seehofer wurde schon öfter geraten, er solle sich schämen, vor allem von Menschen, die sich ihrerseits für Horst Seehofer schämen. Am Sonntag twitterte Kevin Kühnert nach der Bekanntgabe des Rücktritts von Andrea Nahles, "Ich schäme mich dafür", und rügte damit das Verhalten seiner SPD.

"Ich schäme mich" - das klingt bescheiden, demütig vielleicht sogar. Ein Satz wie eine kleine Verbeugung vor dem Gegenstand, um den es geht.

Schmuck statt Gefühl

Tatsächlich sagt diese exponierte Art der Scham aber weit mehr über die Person aus, die sich zu ihr bekennt, als über die Authentizität der Emotion. Scham im öffentlichen Diskurs ist nicht mehr als ein Hinweis auf die eigene intakte Moral. Wer sich schämt und das anderen mitteilt, der wird unanfechtbar, denn er dekoriert sich mit einer menschlichen Erfahrung.Beim öffentlichen "Ich schäme mich" geht es um Schmuck, nicht mehr um das Gefühl, das jeder Mensch kennt: das sich einstellt, wenn jemand anderes etwas erfährt, das man lieber für sich behalten möchte. Das einen überfällt, wenn man mit einer unangenehmen Wahrheit konfrontiert wird. Das sich im Magen ausbreitet, wenn man versagt hat. Die nach allen Seiten kommunizierte Scham von Personen des öffentlichen Lebens hat nichts Reflexives an sich. Sie ist lediglich ein Aufruf zur Ausstellung des eigenen, moralisch fehlerfreien Wesens: Ich schäme, also bin ich.

In der Bibel versteckt Adam sich vor Gott, weil ihm bewusst wird, dass er nackt ist. Er will allein sein mit dem neuen Gefühl, er verkriecht sich. Selbst, wenn Adam einen Twitteraccount gehabt hätte, wäre es ihm vermutlich nicht in den Sinn gekommen, seinen zwei Followern davon zu berichten. Eben weil Scham kein schönes, kein stolzes, sondern ein zutiefst unangenehmes Gefühl ist. Scham macht verletzlich. Sie schafft keine Likes.

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Quelle:
SZ vom 04.06.2019
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