Interview mit Kent Nagano:"Kinder lieben Parsifal"

Der amerikanische Stardirigent Kent Nagano erklärt die Kraft der Oper und verrät, dass ihm Wagner und Mozart manchmal Angst machen.

Interview: Carsten Matthäus und Oliver Das Gupta

Kent Nagano: Sie kommen von der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung? Ältere Leute wie ich lesen morgens die Zeitung, trinken Kaffee und sortieren den Kopf. Wenn ich online gehe, ist das für mich so hyperaktiv, dass ich es manchmal anstrengend finde. Das Internet ist laut, Zeitung - echtes Papier - ist etwas ruhiger.

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Seit Sommer 2006 Chef der Münchner Staatsoper: Kent Nagano

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Nutzen Sie das Internet, um sich zu informieren?

Nagano: Nein, ich nutze nur E-Mail-Programme. Ich habe da eine ganz schlechte Erfahrung gemacht. Ich wurde ein Opfer von "Identity theft", als ich Bücher im Internet bestellt habe. Man stahl mir alle meine persönlichen Daten - Kontonummer, alle Kreditkartennummern, meine Sozialversicherungsnummer, alles war weg. Es war wirklich wie im Film: Als ich bei American Express angerufen habe, hat man mir gesagt: "Nein, Sie sind nicht Kent Nagano, wir haben gerade mit Kent Nagano gesprochen." Egal, welche Daten ich ihnen gegeben habe, sie haben freundlich, aber bestimmt darauf bestanden, den "richtigen" Herrn Nagano schon gesprochen zu haben. Da war offenbar ein Profi am Werk, der bereits größere Summen von meinen Konten abgehoben hatte.

SZ: Haben Sie Ihr Geld wieder?

Nagano: Ja, aber das hat eineinhalb Jahre gedauert und war sehr mühsam. Es war ein Albtraum, wenn keiner einem glaubt, dass man ist, wer man ist (lacht).

SZ: Im Büro von Sir Peter Jonas, dem früheren Staatsintendanten, war es nicht so aufgeräumt wie in Ihrem. Liegt das an Ihren japanischen Wurzeln oder Ihrem persönlichen Bedürfnis nach Ordnung?

Nagano: Das hat wenig mit meiner Familie oder japanischer Tradition zu tun. Es ist nötig, da ich momentan noch neben der künstlerischen Gesamtleitung auch meine Aufgabe als Generalmusikdirektor wahrnehme. Dies wird sich ändern, wenn Klaus Bachler von der kommenden Saison an seine Tätigkeit als Intendant der Bayerischen Staatsoper beginnt. Die einzige Art, wie ich das persönlich schaffen kann, ist eine perfekte Ordnung in meinem Büro. Alle Papiere sind, wo sie sein sollten. Es hilft mir, nicht im Chaos zu arbeiten.

SZ: Wenn Sie dirigieren, wirken Sie sehr konzentriert, Sie sprechen selbst von der großen physischen Anstrengung dabei. Gibt es bei Ihnen auch Momente, wo Sie das Gefühl wegträgt, wo die Emotion spielt?

Nagano: Das ist ein sehr gefährliches Phänomen, über das Sie sprechen. Jeder Künstler muss einen Weg finden, damit das nicht passiert. Manchmal sehen wir, dass es lange dauern kann, nicht nur eine Minute oder eine Stunde, sondern jahrelang. In meinem Fall habe ich viel Glück, weil ich verschiedene Interessen habe. Recherchieren, unterrichten, zu spielen - all diese verschiedenen Aspekte tragen dazu bei, keine Routine aufkommen zu lassen.

SZ: Also ist Musizieren für Sie eher Handwerk als Kunst?

Nagano: Es ist mehr als Handwerk. Handwerk ist die Grundlage, die sichere Technik. Diese muss man mehr und mehr schärfen. Aber Technik allein ist noch nicht Inhalt, noch nicht Struktur, noch keine Sprache. Selbst mit perfekter Technik muss man das sein Leben lang üben. Das macht Kunst so besonders.

SZ: Sie sagten einmal, Sie sähen einen engen Zusammenhang zwischen Religion und Musik. Inwieweit hilft Ihnen Spiritualität bei der Arbeit?

Nagano: Ich erinnere mich an eine Konversation mit dem großen, inzwischen verstorbenen Dirigenten Günter Wand. Er sagte, manchmal sei er konsterniert, weil er weiß, dass er nicht immer gut dirigieren kann. Aber manchmal, so Wand, erreichte er es, sehr gut zu dirigieren. Und dann, für einen schnellen Moment, für ein Tausendstel einer Sekunde, habe er das Gefühl, sehen zu können, was hinter den Sternen liegt. Ich glaube, dieser Aspekt ist das, was die Kunst ewig macht.

SZ: Neben Ihrem Schreibtisch liegt ein offener Koffer. Er erinnert daran, dass Sie viel unterwegs sind. Was bedeutet für Sie Heimat?

Nagano: Es gibt verschiedene Heimaten. Ich weiß, dass diese Antwort etwas gegen die Idee des Begriffs Heimat geht. Aber wenn wir bedenken: Es gibt eine emotionale Heimat, eine intellektuelle Heimat ... - es kann verschiedene Heimaten geben. Ich spreche oft über dieses Thema mit meiner Familie, weil die einfachste Antwort auf Ihre Frage eigentlich lautet: "Heimat ist, wo die Familie ist." In meinem Fall Frau und Tochter.

Aber ich könnte auch Nordkalifornien nennen, wo ich aufgewachsen bin. Jedes Mal, wenn ich diese Region fühle, sehe und rieche, dann ist das etwas Besonderes, etwas Familiäres für mich, eine Art Heimat. Wenn ich an Kunst denke, dann kann es sein, dass Heimat in diesem Moment entsteht, in dem ich mit meinen Kollegen Musik mache. Zum Beispiel heute, im Keller dieses Gebäudes, als wir Schuberts Neunte geübt haben. Drei Stunden lang war das völlige Heimat.

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Einer der Münchner "Operngötter": Komponist Richard Wagner im Jahre 1870. Die Aufnahme entstand in München

(Foto: Foto: Scherl)

SZ: Dann fragen wir Sie, was ist nicht Heimat?

Nagano: Zum Beispiel ein Supermarkt oder ein sehr geräuschvoller Flughafen - das ist sicherlich keine Heimat.

SZ: Der Marienplatz, kann der für Sie Heimat sein?

Nagano: Ich kann es nicht erklären, warum - aber es fühlt sich an wie zu Hause. Wenn man bedenkt, dass ich in San Francisco geboren wurde, in vierter Generation einer Immigrantenfamilie aus Asien, und in den USA ausgebildet wurde: Da fragt man sich vielleicht, warum mir dann der Marienplatz, die Maximilianstraße und das Nationaltheater nah sein sollten.

SZ: Sagen Sie es uns.

Nagano: Es hat etwas zu tun mit der großen musikalischen Geschichte, die wir in München und besonders hier an der Bayerischen Staatsoper haben.

SZ: Welche Komponisten machen München so besonders?

Nagano: Vier Beispiele: Orlando di Lasso, Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Wagner, Richard Strauss. Als dieses Orchester "Tristan und Isolde" gespielt hat unter der künstlerischen Leitung Herrn Wagners, da war die Resonanz dieses Ereignisses weltweit so stark, dass Musik nicht mehr in dieselbe Richtung gedacht wurde wie vorher. Das ist ein Teil von unserer Geschichte hier. Und wenn man Musik studiert, egal wo, dann studiert man diese Geschichte auch indirekt.

Es ist eine Ehre, ein Privileg, gefragt zu werden, ob man hierherkommen und ein Teil dieser Tradition sein und ihr dienen möchte. Es ist eine Bindung, die sich anfühlt, als ob man heimkehrt.

SZ: Aber die Geschichte kann auch eine Bürde sein, es sind enorme Fußstapfen, in die man tritt. Machen Ihnen die Münchner Hausgötter manchmal Angst?

Nagano: Oh ja, selbstverständlich. Und wenn jemand nein sagt, stimmt etwas nicht. Diese Hausgötter hier sind ein Teil der Musikgeschichte, das hat Gewicht. Man muss einfach beeindruckt sein, außer man kann nicht abschätzen, welche Tiefe der Musik hier passiert ist.

SZ: In ein paar Stunden werden Sie hinuntergehen in den Graben und dirigieren. Brauchen Sie dazu eigentlich Macht oder geht es auch ohne?

Nagano: (lange Pause) Auf jeden Fall bedarf es Ehrlichkeit, Verantwortung und Echtheit. Musiker, Künstler und auch das Publikum sind hochsensibel. Sie merken sofort, wenn jemand nicht echt ist. Und dann funktioniert Macht nicht.

SZ: Stichwort Sensibilität: Sie haben sich in der Vergangenheit als sensiblen, schüchternen Menschen bezeichnet. Wie gehen Sie damit um, verantwortlich für eine Premiere zu sein, die verrissen wird? Trifft Sie Kritik sehr?

Nagano: Es ist fast unmöglich, das zu verallgemeinern. Es hängt von so vielen Bedingungen ab. Ob man gut dirigiert hat, oder nicht. Ganz klar: Man hat immer die Hoffnung, das Ziel, die Vision, dass man einen künstlerischen Standard erreichen wird. Aber wenn das nicht kommt, dann müssen wir das akzeptieren.

SZ: Diesen künstlerischen Standard können nur diejenigen wertschätzen, die über ein gewisses Bildungsniveau verfügen. Sie haben in der Vergangenheit vor einer "Generation ohne kulturelle Tradition" gewarnt.

Kent Nagano

"Wenn wir jetzt nicht in junge Leute investieren, werden wir in der Kunst keine Zukunft haben," sagt Kent Nagano.

(Foto: Foto: ddp)

Nagano: Es ist ganz einfach: Wenn wir jetzt nicht in junge Leute investieren, werden wir in der Kunst keine Zukunft haben. Kunst ist eine Reflexion der menschlichen Seele, die höchste Art von Kommunikation, die wir kennen. Kunst ist universal. Wenn wir das nicht teilen und die nächste Generation das nicht lernen lassen, dann ist das eine große Gefahr.

Nehmen Sie meine persönliche Geschichte: In unserem Dorf lebten Fischer, Bäcker, Bauern, viele Cowboys, Truckfahrer - alle Gesellschaftsschichten, die ein kleiner Ort eben haben kann. Aber: Fast 90 Prozent der Kinder spielten damals ein Instrument, spielten in einem Orchester. Es war einfach Teil des staatlichen Lehrplanes. Die Folge: Das kleine Dorf hat in meiner Generation viele professionelle Musiker, Lehrer und Schuldirektoren hervorgebracht. 1977/1978 war dann von einem Tag auf den nächsten die Finanzierung verschwunden. Die Generationen nach uns haben diese Ausbildung nicht mehr - und das Dorf hat kaum noch Musiker.

SZ: Was tun Sie, um die Oper bei jungen Menschen attraktiver zu machen?

Nagano: Es ist sehr wichtig, dass wir unserem Publikum vertrauen und der Sensibilität der Menschen im Allgemeinen. Sie können es bei kleinen Kindern sehen. Es heißt, dass man die Aufmerksamkeit eines Kindes nur für ein paar Augenblicke hat, dann muss man das Bild ändern. Dies wurde mir als eine der Hauptregeln des Fernsehens genannt. Dies bedeutet, dass man auf eine gewisse Weise nicht viel Vertrauen in die Menschen hat. Auf der anderen Seite kommen kleine Kinder, drei oder vier Jahre alt, zur Staatsoper und sie lieben "Parsifal"! They love the "Walküres"! They can't wait to talk about "Die Frau ohne Schatten", eines der komplexesten Libretti. Weil sie ihnen eine Chance gibt, mit etwas Kontakt zu haben, das öffnender ist, als ein Zwei-Sekunden-Bild im Fernsehen. Das bedeutet eigentlich ganz einfach, (man muss) die Möglichkeit eröffnen, die Oper verfügbar zu machen.

SZ: Zu einem anderen, sehr lauten Thema: dem US-Präsidentschaftswahlkampf. Wie empfinden Sie ihn als Amerikaner?

Nagano: Wir haben in den USA lange nicht mehr so viel Interesse an einer Wahl gehabt. So viele Menschen nehmen leidenschaftlich teil daran. Und es ist hochinteressant zu sehen, wie unterschiedlich die Kandidaten ihre Wähler ansprechen. Dieser Wahlkampf ist anders als früher, er ist wirklich aufregend. Ich finde es faszinierend, dass die reale Chance besteht, eine Frau oder einen Schwarzen im Weißen Haus sitzen zu sehen. Das wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen.

SZ: Würden Sie eine Prognose abgeben, wer das Rennen machen wird?

Nagano: Oh my goodness, (lacht) wenn ich das könnte, dann wäre ich schon engagiert worden von professionellen Demoskopen. Ich glaube, dass es dieses Mal unmöglich ist, zu sagen, was passiert.

SZ: Verraten Sie uns, wem Sie Ihre Stimme geben?

Nagano: Es klingt wie eine Ausrede, aber es ist die Wahrheit: Ich bin noch nicht sicher, so wie viele Leute in Amerika.

SZ: Wir haben uns vor diesem Interview unter Ihren Orchestermusikern umgehört und gefragt, was sie gerne von Ihrem Chef erfahren würden. Einige wollten wissen, ob Sie noch Zeit finden, Bratsche und Klavier zu spielen?

Nagano: Ich studiere Partituren am Klavier. Das ist für mich die beste Art, Musik zu lernen. In diesem Sommer wird meine Tochter ihr erstes Mozart-Konzert geben - und ich werde Bratsche im Orchester spielen. (lacht)

SZ: Wo wird das Konzert stattfinden?

Nagano: In jenem kleinen Dorf in Kalifornien, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist wunderbar: Mein erster Lehrer wird dirigieren, meine Tochter spielt und ich werde im Orchester sitzen. Ich werde Ihnen später aber nicht verraten, ob ich gut gespielt habe.

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