Hype um Keanu Reeves:Meine Güte!

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Kommentare zu Keanu Reeves klingen zur Zeit gern so: "Er ließ seine Wasserflasche fallen. Ich hob sie auf, gab sie ihm, berührte seine Hand. Er sagt Danke. Glückseligkeit."

(Foto: Neilson Barnard/Getty)

Der Schauspieler Keanu Reeves wird im Netz gerade quasi-religiös für seine Großherzigkeit verehrt. Über ein hirnverbranntes Schauspiel von erhabener Schönheit.

Von Jakob Biazza

Da Leid nicht nur etwas sehr Persönliches, sondern auch etwas sehr Relatives ist, muss man auch dieses Leid ins Verhältnis setzen, um das Opfer zu erfassen. Hier: ins Verhältnis zur Größe von Keanu Reeves. Der Schauspieler misst - je nach Quelle - 1,85 oder 1,86 Meter. Das ist, gegen den weltweiten Durchschnitt gehalten, nicht gewaltig. Im Vergleich zu den Menschen früherer Generationen, für die die Theaterstühle in der Brooklyn Academy of Music, gegründet 1861 und nach einem Feuer 1908 an anderer Stelle neu eröffnet, einst geplant worden waren, aber eben auch nicht winzig. Zumal Reeves, so wirkt es zumindest in seinen Filmen, sehr lange Beine hat.

Und ebenjene Beine waren, so beschreibt Naomi Fry das Leid des Schauspielers im New Yorker, "in den winzigen Platz vor sich gezwängt". Wir reden hier nicht von irgendeinem winzigen Platz, sondern von den "cheap seats", der Holzklasse also, in der Hinz neben Kunz Wadenkrämpfe bekommt. Und dieser Weltstar sitzt da nun einfach und schaut sich ein Stück von Pina Bausch an.

Die Szene, schreibt die Autorin, sei eine von zwei privaten Reeves-Szenen, die sie im Geiste immer mal wieder hervorhole, wie man es "mit einem Edelstein oder einem Amulett" tut. In der zweiten kommt Reeves, alleine, aus einem Film des japanischen Kultregisseurs Akira Kurosawa. Mit einem großen Eimer Popcorn. Mehr passiert nicht.

Was passiert, wenn wir sterben? Auch darauf hat Keanu Reeves eine beglückende Antwort

Der Text, in dem Fry das schreibt, trägt den Titel "Keanu Reeves is too good for this world". Er ist der seltsame Höhepunkt einer an Seltsamkeiten nicht eben armen Anekdotensammlung, in der Reeves - Schauspieler, Motorradenthusiast, Bassist, früher in einer Band, inzwischen nur noch für sich - seit einiger Zeit zum Säulenheiligen des Internets erklärt wird.

Anekdoten, die sich auf Twitter unter dem Hashtag #keanustories zum Beispiel so lesen: "Ich war für seine Kleidung beim Nachdreh für John Wick zuständig und spätnachts mit ihm alleine, ich erzählte ihm schüchtern, wie viel mir seine Arbeit bedeutet, und er war unglaublich nett zu mir, dankte mir aufrichtig und gab mir einen Kuss auf die Wange. So nett." Oder so: "Ich war schon fast an meinem Apartmentkomplex in NYC und Keanu kam mir entgegen. Ich schaue ihn an, registriere, wer er ist, er lächelte, winkte ein bisschen und sagte, 'Hey, wie geht's?' Es war ein kurzer Moment der Verbindung, aber ich habe ihn nie vergessen." Sekundiert von: "Mir ist dasselbe in einem Restaurant in Sydney passiert. Ich habe das auch nie wieder vergessen."

Eine Schauspielerin lässt wissen, Reeves habe sie auf einer Party gefragt, ob sie auf ihrem Handy Bilder ihres Hundes im Kostüm hätte (hatte sie). Während der kurzen Interaktion habe er gewirkt, als besäße er "eine sehr schöne Seele". Und von einem Konzert von Dogstar, der Band, in der Reeves spielte, bevor er nur noch für sich spielte, hört man: "Ich stand direkt vor ihm. Er ließ seine Wasserflasche fallen. Ich hob sie auf, gab sie ihm, berührte seine Hand. Er sagt Danke. Glückseligkeit."

Glückseligkeit. Für ein "Danke". Oscar-Preisträger Christian Bale beispielsweise, der im Vergleich zu Reeves schauspielerisch oft mehr zu bieten hat, könnte ein behindertes Golden-Retriever-Baby aus einem brennenden Haus retten und würde keine Glückseligkeit auslösen. Bei niemandem. Für Keanu Reeves wurde jüngst sogar eine Petition gestartet, die ihn zur "Person des Jahres" der Times machen soll. Begründung: "Keanu ist der selbstloseste Mensch auf der Welt." Aktueller Stand: knapp 160 000 Unterschriften.

Man muss in Zeiten, in denen das Internet immer größere Anforderungen an die Ironie-Trittsicherheit seiner User stellt, etwas tiefer graben, um einigermaßen fundiert sagen zu können: Ja, die meisten Menschen meinen das alles mit relativ großer Wahrscheinlichkeit ernst.

Und das in Teilen ja auch mit Recht: Es gibt eine Sammlung von Fotos, auf denen Reeves Frauen mit sogenannten "Hover Hands" umarmt - Händen also, die über den Körpern schweben und die Frauen damit nicht berühren. Als ein Flieger, mit dem er von San Francisco nach Los Angeles wollte, in Bakersfield notlanden musste, hat Reeves, so berichten es Zeugen, nicht nur geholfen, einen Transport zu organisieren, sondern während der Fahrt auch Wissenswertes über die Stadt vorgelesen. Final eskalierte der Hype schließlich, als Reeves am Ende eines Interviews mit Stephen Colbert auf die mindestens zweidrittel-blöde Frage, was seiner Meinung nach passiere, wenn wir sterben, erst innehielt und dann die mindestens dreiviertel-brillante Antwort gab: "Ich weiß, dass diejenigen, die uns lieben, uns vermissen werden."

Der Satz verzehnfacht sein Gewicht, wenn man weiß, dass Reeves damalige Freundin Jennifer Syme Ende der Neunziger ein gemeinsames Kind tot zur Welt brachte. Zwei Jahre später, als die beiden allerdings schon getrennt waren, starb sie selbst bei einem Autounfall.

Ist er tatsächlich das "Gegengift für alles, was falsch läuft in der Welt"?

Die beiden Tragödien gehören zu den sehr wenigen Dingen, die man privat über den Schauspieler weiß. Auch deshalb ist Leid seither ein bestimmendes Narrativ in der Reeves-Perzeption. Sinngemäß: Er ist durch die Hölle gegangen, nun ist er gütig. 2010 entstand ein Foto, das ihn auf einer Bank sitzend zeigte, mit Beinfreiheit diesmal zwar und außerdem mit einem Sandwich, aber auch mit einer etwas blümeranten Traurigkeit im Blick. Die Geburtsstunde des Sad-Keanu-Memes - und einer inbrünstigen Solidaritätswelle. Ein weiterer Mosaikstein im Heldenbildnis.

Ja, man bestaunt hier natürlich ein weithin hirnverbranntes Schauspiel, aufgeführt von Fans, die Bedeutung suchen, wo womöglich nicht viel mehr ist als die sehr höfliche Professionalität des Protagonisten. Wenn man allerdings nur für eine Sekunde den Gedanken ernst nimmt, dass das, was auf Berühmtheiten projiziert wird, ehrlich empfundene Hoffnungen und Wünsche sind und damit auch Ausdruck eines quasi-realen Mangels und echter Sehnsüchte, dann wird die Verehrung für Reeves doch interessant. Und ja: auch wunderschön.

Was die Szenen - wenigstens in der Wahrnehmung - eint, ist schließlich dies: In quasi allen erlebt man einen Menschen, der mit sehr einfachen Mitteln und im Rahmen seiner jeweiligen Möglichkeiten sehr menschlich ist. Und damit das Leben anderer verbessert. Wie marginal auch immer. Der Dinge tut, die er ebenso gut lassen könnte. Und sie dann aber eben nicht lässt. Sehr hoch gegriffen also: Reeves zeigt, welchen Einfluss jeder Einzelne auf sein Umfeld hat. Wir alle machen den Unterschied, schreien die geschilderten Szenen - etwas appellativ interpretiert.

Die Tatsache, dass der Schauspieler für genau diese kleinen Menschlichkeiten gerade derart heroisiert wird, zeigt womöglich, wie ungewöhnlich sie inzwischen sind. Wie sehr sie einen Gegenentwurf bilden zu einem (wenigstens angenommenen) Zeitgeist, der durchtränkt ist von Abschottung und Egoismen. Von Menschen, die manisch auf die eigene Gruppe starren. Von Rassismus und Nationalismus. Und auf der anderen Seite von Identitätspolitik und Überheblichkeiten.

Ein berühmter Schauspieler, der den Fluggästen nach der Notlandung Wissenswertes über Bakersfield vorliest, statt sich erst mal um die eigene Heimreise zu kümmern, sticht offenbar schon sehr hervor. In einer Zeit, in der Dissens allzu leicht zum Kulturkampf wird, und unbedachte Äußerungen rasch nach Generalbeleidigungen klingen, wird die kleinste Geste sofort groß. Er ist eine Figur, die Menschen fabelhaft auf ein Podest stellen können, wenn sie die Rettung der Welt eher in gütigen Taten Einzelner sehen als im Umsturz von Systemen. Menschen, die das Schöne und Gute auf der Welt im Kleinen finden. Und von San Francisco nach Los Angeles dann trotzdem den Flieger nehmen.

Naomi Fry bezeichnete Reeves im New Yorker übrigens noch als "Gegengift für alles, was falsch läuft in den täglichen Nachrichten". Noch so ein Unfug. Aber man muss eben auch sagen: Wenn es sich nur für genug Menschen so anfühlt, ist es ja auch quasi schon wahr.

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