Süddeutsche Zeitung

Katrin Seddig:Moment des Unvernehmens

Lesezeit: 3 min

Katrin Seddigs Roman "Sicherheitszone" betrachtet den G20-Gipfel in Hamburg aus der Distanz.

Von Nora Noll

Googelt man in der Bildersuche "G20 Hamburg", ist der Bildschirm bedeckt von schwarzen Gestalten, Rauchschwaden und brennende Barrikaden. Die Nacht im Schanzenviertel, die auf den ersten Tag des Gipfeltreffens am 7. Juli 2017 folgte, prägt die kollektive Erinnerung. Das Ringen um die Interpretation dieser Bilder läuft bis heute.

Während G20 für die Einen zum Symbol linker Gewalt geworden ist, wollen andere über staatliche Repressionen sprechen. Eben erst entschuldigte sich die Hamburger Polizei bei einem Journalisten dafür, dass sie ihn unrechtmäßig an seiner Arbeit gehindert hat, insgesamt klagten neun Journalisten, die trotz Akkreditierung nicht zugelassen wurden.

Will man den Gipfel mit seinem aufgeladenen Drumherum unideologisch betrachten, muss man sich auf die unterschiedlichen Erfahrungsfelder einlassen. Die Differenz, die sich dann aufzwingt, zwischen Olaf Scholz uneingeschränktem Lob der "heldenhaften" Polizei und Videos von behördlichen Faustschlägen, schafft automatisch einen politischen Raum im Sinne des Philosophen Jacques Rancière: Im Moment des Unvernehmens beginnt die Politik. Die Anteillosen, die von einem vermeintlichen Konsens ausgeschlossen sind, erheben Anspruch auf ihren Anteil der Geschichte.

Für viele bedeutete der Gipfel einen Bruch in ihrem Alltag

Und so betritt auch Katrin Seddig mit ihrem Roman "Sicherheitszone", in dem verschiedene Hamburger den Gipfel aus verschiedene, teils widersprüchliche Weise erleben, unweigerlich die politische Sphäre. Der Roman blickt auf eine Hamburger Familie - Vater, Mutter, Tochter, Sohn und Oma - und gestaltet deren Zusammen- und Auseinanderleben in einer Zeit des Ausnahmezustands. Für viele bedeutete der Gipfel einen Bruch mit Alltag und Selbstverständlichkeiten, für die Stadt im Großen genauso wie für Familie Koschmieder im Kleinen.

"Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles", schrieb Carl Schmitt 1922 in der "Politischen Theologie". Giorgio Agamben orientierte sich analytisch an Schmitt, aber interpretierte den Ausnahmezustand als ein der Demokratie inhärentes Paradox. Die Ordnung erhält sich, indem sie eigene Grundlagen aushebelt und Grundrechte im Namen der Sicherheit einschränkt. So, wie es in Hamburg geschah: Ein Zeltlager wurde trotz gerichtlicher Genehmigung polizeilich ausgelöst, in der 38 Quadratkilometer großen Sicherheitszone galt Demonstrationsverbot.

Was macht ein Ausnahmezustand mit den Bürgern? Seddig zeigt anhand ihrer Figuren, wie sich Gefühlsleben und politischer Kontext während des Gipfels miteinander verweben. Als der Familienvater Thomas zwischen Absperrungen und Polizeikontrollen zu seinem Antiquitätenhandel am Rande der Sicherheitszone fährt, fühlt sich diese Selbstverständlichkeit plötzlich rebellisch an.

Die Staatsgewalt wird zu einer Instanz, vor der er von einem Tag auf den anderen seinen Arbeitsweg rechtfertigen muss. Als er auf der Demonstration "Welcome to Hell!" als Beistehender im Getümmel gepfeffert wird, lässt ihn die Erfahrung nicht mehr los, an seinem Demonstrationsrecht gehindert worden zu sein: "Und je mehr er über dieses Recht nachdenkt, desto hilfloser fühlt er sich."

Die Figuren werden sich ihrer Rolle als Staatsbürger bewusst

Die Mutter entdeckt bei einem Flashmob ihre Freude an gesellschaftlicher Teilhabe, fragt sich aber auch, was eine politische Kunstaktion noch für Sprengkraft besitzt, wenn sie von allen Seiten geduldet und sogar gelobt wird. Auch die Tochter macht eine G20-Politisierung durch. Sie demonstriert mit der Gruppe "Jugend gegen G20" und wird Zeugin, wie ihr Freund einen Schlagstock abkriegt, als die "Welcome to Hell"-Demo am Fischmarkt zerschlagen wird. Die 17-Jährige hat zum ersten Mal Angst vor der Staatsgewalt. Angst vor ihrem Bruder, der derweil als Polizist auf der anderen Seite steht. "Es geht dich nichts an", denkt der junge Mann, um bei Einsätzen ruhig zu bleiben, stellt aber fest, dass auch diese Einstellung eine politische ist. Die Oma schließlich stolpert durch demente Zwischenwelten, in denen die bebende Stadt Kriegs- und Fluchterinnerungen hervorholt.

Die Momente, in denen sich die Figuren ihrer Rolle als Staatsbürger bewusst werden, sind die interessantesten. Da zeichnet Seddig, selbst Hamburgerin, mit sensiblem und leicht ironischem Ton das Bild von Durchschnittsmenschen, die auf einmal Politik nicht nur abstrakt in den Nachrichten erleben. Daneben geht es viel um familieninterne Verflechtungen, die aus allen fünf Erzählperspektiven beleuchtet werden und eine Prise weniger Küchenpsychologie vertragen hätten.

Dass der Sohn schwul und adoptiert ist, sich aus Angst vor Liebensentzug nicht outet und Stabilität in dem rigorosen Ordnungsdenken der Polizei findet; dass das Interesse der pubertierenden Tochter für Protest auch damit erklärt wird, dass sie in einen jungen Radikalen verliebt ist; oder dass der Vater in seiner Midlife-Crisis steckt und deshalb nach einem Ausdruck neuen Selbstverständnisses sucht - das alles liest sich nicht nur konstruiert, es wird auch dem politischen Raum, in dem Seddig ihren Familienroman ansiedelt, nicht gerecht.

Die Randale im Schanzenviertel findet natürlich auch ihren Platz. Sie wird vom Balkon aus beobachtet und von Mutter Koschmieder mit kunsthistorischer Expertise kommentiert. "Wenn ich das hier als Bild sehe, dann schaffe ich mir Neutralität", erklärt sie. Vielleicht liegt hierin auch das Problem des Romans. Seddig will ein neutrales Bild schaffen, und katapultiert ihre Figuren mit psychologischen Erklärungen aus dem politischen Raum heraus. Damit geht sie kein Risiko ein. Bei dem heiklen Thema ein nachvollziehbarer Ansatz. Nur bleibt ihr Roman dadurch im Erwartbaren haften.

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Quelle:
SZ vom 30.09.2020
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