Katharsis:Vor dem Donnerwetter

Sommerabend

Formvollendet unglücklich: Anna (Jutta Speidel, von links), Madeleine (Carin C. Tietze) und Richard (Ralf Komorr). Vor den Augen ihrer Kinder (Sarah Elena Timpe, David Paryla, hinten) kommt es alsbald zum Wortgewitter.

(Foto: Alvise Predieri)

Gabriel Barylli inszeniert in der Komödie im Bayerischen Hof sein neues Stück "Sommerabend". Was als heiteres Geplänkel beginnt, endet im Gemetzel

Von Barbara Hordych

Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich" lautet der erste Satz von Leo Tolstojs Roman "Anna Karenina". Es sind viele Faktoren, die für eine glückliche Familie stimmen müssen. Für eine unglückliche Familie braucht nur einer dieser Faktoren zu fehlen. Nach diesem Prinzip verfährt auch Gabriel Baryllis neues Stück "Sommerabend", das in der Regie des Autors in der Komödie im Bayerischen Hof Premiere hatte. Dort treffen zwei Paare - Jutta Speidel als Anna und Daniel Friedrich als Wilhelm sowie Carin C. Tietze als Madeleine und Ralf Komorr als Richard - zwecks "Familienzusammenführung" aufeinander, denn die Tochter der einen will den Sohn der anderen heiraten. Während das junge Paar noch auf sich warten lässt, beginnen die beiden gealterten Paare recht schnell, sich gegenseitig bloß zu stellen: Da wünscht sich der Herzchirurg Wilhelm vergeblich von seiner Frau Anna, dass sie ihren "Vorbau" renovieren lässt; da fühlt sich die Fernsehjournalistin Madeleine, aufgetunt mit Brüsten in "D-Größe" in ihrem sexuellen Appetit von ihrem Mann, dem Autor Richard, zurückgewiesen. Der wiederum hat zwar vor Jahren einen Bestseller geschrieben, verfasst inzwischen allerdings zum Ärger seiner Gattin lieber publikumsverschreckende Bücher. Sein jüngster Titel "Grau" liegt bei Anna auf dem Nachtkästchen, die mithilfe der Literatur ihr luxuriöses Hausfrauen-Dasein poetisiert. Und sich über die Tatsache hinwegzutrösten sucht, dass ihr eine Gebärmutteroperation weitere Kinder versagte.

Doch auch diese Methode ist brüchig, davon zeugen nicht nur Annas Migräne und Schlaflosigkeit, sondern auch der schmerzlich vermisste Stammhalter, den ihr Mann Richard nicht mit ihr, sondern mit der Vorzimmerdame eines Kollegen gezeugt hat. "Roland ist ein Guter", heißt es im Laufe des Stücks immer wieder über diesen Schönheitschirurgen, der Madeleine demnächst zu "Doppel-D" verhelfen soll. "Für wen denn dieses Mal?" fragt ihr Mann Richard sarkastisch, wohl wissend, dass seine Frau Rolands Dienste nicht nur in Anspruch nimmt, um dem Attraktivitätsdruck in ihrer Branche zu genügen, sondern auch, um sich leichter Liebhaber angeln zu können. Beispielsweise den Erotomanen Wilhelm, der sich von seiner vermeintlich "frigiden" Frau Anna ohnehin als "Geldautomaten-Befüller" instrumentalisiert fühlt.

Ein Szenario, das an einem lauschigen Sommerabend im Garten von Anna und Wilhelm als leichtfüßige Komödie beginnt, das sich aber wie das Donnergrollen im Hintergrund der von Hausherr Thomas Pekny ausgestatteten Bühne schließlich in einem von den Darstellern furios dargebotenen emotionalen Gewitter entlädt. Mit scharfen Worten und schnell gesetzten Pointen werden sich hier gegenseitig derart "die Herzen zerfetzt", wie Jutta Speidels Anna in einem klaren Moment konstatiert, dass die anfänglichen Lacher im Publikum in der zweiten Hälfte eher erschrockenen Stoßseufzern weichen.

"Ich sehe das Stück als eine Art Katharsis. Zunächst ist der Wiedererkennungswert mit den Figuren auf der Bühne groß. Doch was sie dann miteinander anrichten, ist so schrecklich, dass man sich als Zuschauer fragen soll: Wo ist da noch die Steigerung? Eigentlich können sie sich jetzt nur noch gegenseitig mit dem Messer an die Kehle gehen", sagte Gabriel Barylli bei einem Treffen im Vorfeld der Münchner Premiere. Drei Aufführungen seines Stücks mit drei je unterschiedlichen Ensembles inszenierte er in den vergangenen Monaten, in Düsseldorf, München und Köln. Trotz des Schreckensszenarios auf der Bühne bekennt sich Barylli selbst nach vier gescheiterten Ehen und zwei Söhnen von zwei verschiedenen Müttern zu einem komplett anderen Beziehungsmodell. An dessen Existenz er glaube, "da bin ich Optimist, das will ich auch dem Publikum vermitteln". Privat verwirkliche er es seit 19 Jahren mit seiner fünften Frau Sylvia Leifheit. "Das haben wir uns nicht erarbeitet, es gehört Glück dazu. Wir bleiben immer im Austausch miteinander und wandeln uns gemeinsamen", sagte Barylli.

Im Stück übernehmen zum Ende hin die beibeiden jungen Brautleute, Sarah Elena Timpe als Maria und David Paryla als Martin - die Aufgabe, "Stopp" zu sagen. Eigentlich hätten sie sich vorgenommen, "einander mit unserer Herkunft zu verschonen", erklären sie ihren verdutzt inne haltenden Eltern beim Abschied. Stattdessen sagen sie nun Danke - "dafür, dass es uns gibt. Und für euer Beispiel ... das uns so deutlich zeigt, wie wir nicht werden wollen".

Eine "erleuchtende Ohrfeige" verpassten die Kinder da ihren Eltern, sagte Barylli. Inwieweit sie diesen "Weckruf der Kinder" aufgreifen und umsetzen können, oder ob sie weiterhin in der unglücklichen Beziehungsverstrickung verharren, bleibt offen. Auch darin zeigt sich der Autor und Regisseur als Meister der naturalistischen, psychologisch stimmigen Figurenzeichnung.

Sommerabend, bis 16. Juni, Komödie im Bayerischen Hof

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