Süddeutsche Zeitung

Katharina Hacker: "Die Gäste":Wie furchtbar, allein zu sein

Lesezeit: 4 min

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie: Katharina Hacker erzählt von einer Zukunft der verlassenen Städte, Liebesroboter und schwindenden Sprachen. Ob uns die Fantasie dann noch retten kann?

Von Nico Bleutge

In alten Panoramen gab es einen Bereich, der den Übergang in die gemalte Welt erleichtern sollte. In diesem "Faux Terrain" waren tatsächliche Gegenstände, Figuren und Tiere verteilt, oft sogar halbe Landschaften aufgebaut, die schon auf die Szenerie im Hintergrund verwiesen. Hier begannen Beobachtung und Imagination sich zu durchdringen. Die Illusionskraft wurde verstärkt - und es ließ sich manchmal kaum entscheiden, ob die materiellen Dinge noch zu dieser oder zu jener Sphäre gehörten.

Als eine solche Zwischenwelt hat Katharina Hacker ihren jüngsten Roman angelegt. Obwohl das Buch ganz handfest mit dem Ton einer Türklingel in Berlin-Schöneberg beginnt, werden die Grenzen zwischen vermeintlicher Wirklichkeit und dem Reich der Fantasie immer durchlässiger. Den Glauben an die Kraft der Imagination teilt Hacker womöglich mit den Malern der Panoramen. Allerdings ist die Essenz der pandemischen Zeit, die das Buch in seine Sätze holt, noch mehr in seinen phantasmagorischen Momenten enthalten als in den Wirklichkeitsdetails, die es entfaltet. Und anders als in den Panoramen geht es bei Hacker weder um eine Nachahmung der Welt noch um einen Überblick. Die literarische Energie entstammt vielmehr der Arbeit mit kleinen Räumen und Nuancen, wie im Faux Terrain eben - und gerade so wird die jüngste Gegenwart in ihrer Brüchigkeit spürbar.

Der Roman spielt in einer Zeit, die man sich, ohne dass je eine konkrete Jahreszahl genannt würde, als eine recht nahe Zukunft erschließen kann, die Pandemie ist ein paar Jahre her, eine zweite droht gerade zu beginnen. Die angedeutete Atmosphäre hat immer wieder Züge einer postapokalyptischen Welt. Drohnen, auch von den Behörden eingesetzt, gehören zum Alltag, man benutzt Liebesroboter und Zugangschips. Aber es ist eben auch von verlassenen Städten in Italien die Rede, in Berlin gab es Brände und auf den Dächern der Stadt lauern Heckenschützen.

All diese Details stellt Katharina Hacker jedoch nicht aus, sondern streut sie wie nebenher in die Sätze. Auch der narrative Kern könnte unscheinbarer kaum sein. Friederike, die Ich-Erzählerin, von Mann und Sohn schon seit einer Weile getrennt, erbt an ihrem 50. Geburtstag von ihrer viele Jahre zuvor verstorbenen Großmutter ein Café in Schöneberg. Etwas mag in Friederike aus dem Gleichgewicht sein, jedenfalls gibt sie ihre Stelle an der Universität sofort auf und will sich um das Café kümmern.

Und so beginnt sie, der heruntergekommenen Lokalität ein wenig Leben einzuhauchen. Entstaubt den Gastraum, lässt die Wände streichen, kauft im Antiquitätenladen neues Geschirr. Katharina Hacker hantiert in ihren Kurz- und Kürzestkapiteln mit bekannten Motiven. Es gibt ein Ensemble von Figuren, die Friederike nahestehen: Freundinnen, regelmäßige Gäste, Helferinnen, darunter Originale wie Kasia, die gute Seele des Cafés, oder Herr Lehmann, der Kioskbesitzer von nebenan. Der Cafébetrieb selbst hat Hochs und Tiefs, hält sich nach einigen Anläufen dann aber recht gut. Mal sitzt man draußen auf den Stufen, mal drinnen bei Käse und Wein am Tisch.

Diese Geschichten sind aber nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr, wie Katharina Hacker ihre Hauptfigur erzählen lässt. Es sind knappe, sehr rhythmisch gehaltene Sätze, die viel mit Ausdrücken wie "vielleicht" und mit Konjunktivformen arbeiten. Dazu verwendet Hacker eine Sprache, die von Um- und Nachstellungen im Satzbau lebt, von weggelassenen Hilfsverben und nur noch selten gehörten Wörtern wie "zürnen" oder "Hagestolz". Nicht von ungefähr hatte Friederike ihre universitäre Stelle am "Institut für schwindende Idiome". So entsteht eine Sprechhaltung, die man im besten Sinne achtsam nennen könnte. Die dem Gegenüber mit Respekt und Empathie begegnet und die offen ist für viele Möglichkeitsräume, für andere Denk- und Wahrnehmungsformen und Zeitvorstellungen jenseits der linearen.

"Geheimnis oder nich, det is so 'ne Sache. Is eins oder keins, weeß man nich."

Kein Wunder, dass sich nach und nach auch die Sphären von vermeintlicher Realität und Fantasie vermischen. Hat Friederike anfangs nur das Gefühl, sie würde immer kleiner werden, so entdeckt sie bald sprechende Ratten, die offenbar im Keller wohnen. Und die nicht nur sprechen, sondern mit Vorliebe singen, Kleidung tragen und dann wie Soldaten vor der Bodenluke aufmarschieren. Immer wieder melden sich diese Ratten zu Wort, und irgendwann beginnt auch Pollux zu sprechen, Friederikes Hund. Dazu scheint sich in der Remise ein Mann mit seinen Tieren eingenistet zu haben, die natürlich ebenfalls reden. Es gibt geschnitzte Tiere, die lebendig werden, und Menschen, die sich in andere Menschen verwandeln. Und ab und an meint Friederike Florian zu sehen, ihren Sohn, der einfach gegangen ist, nachdem er von seiner Adoption erfahren hat.

Dabei ist für Friederike (und für ihr Lesepublikum) nicht immer zu entscheiden, ob sie träumt oder ob die Welt ringsum ins Fantastische kippt. Wie sagt Herr Lehmann einmal: "Geheimnis oder nich, det is so 'ne Sache. Is eins oder keins, weeß man nich." Sicher ist nur, dass die Ratten in diesem Roman keine Staffage sind, sondern etwas über das Verhältnis der Menschen zueinander aussagen. Indem sie in Form kleiner Theateraufführungen Demonstrationen, Flucht- oder Kriegsbilder, Szenen aus Notlazaretten der pandemischen Zeit und sogar Exekutionen nachspielen, halten sie Friederike als Stellvertreterin der Menschen den Spiegel vor.

Spätestens an diesen Stellen wird deutlich, wie fein Katharina Hacker ihrem Roman einen ethischen Faden eingezogen hat. Und wie genau die Sprache, die Erzählhaltung, die Hauptfigur und die Bedeutungsschichten miteinander verbunden sind. "Was glauben Sie, was aus uns werden soll?", fragt eine der Figuren. Und wie ein fernes Echo klingt Friederikes späterer Satz: "Aber man muss den Kummer vergessen". Für jedes gegenwartskritische Moment gibt es hier einen dünnen Hoffnungsschatten, der etwas über eine Frage aussagt, die Katharina Hacker seit ihren ersten Büchern beschäftigt: Wie könnte ein wenigstens halbwegs erfülltes Zusammenleben aussehen? Angst und Achtsamkeit, Sorge und Trost, Zweifel und Zuversicht verhalten sich hier wie Wunde und Antiseptikum zueinander.

Hin und wieder, vor allem im letzten Drittel des Buches, gerät das ansonsten gut ausgewogene Verhältnis zwischen Empathie und Distanz in Schieflage, und die Sätze driften ins Gefühlige ab. Da sind die Herzen dann ein wenig zu schwer und die Seufzer zu tief. Aber die immer wieder aufscheinende Ironie des Buches hilft über solche Stellen hinweg.

Katharina Hackers "Die Gäste" ist ein Buch über das Willkommen-Heißen und über fehlende Nähe, das davon erzählt - um mit Friederike zu sprechen - , "wie furchtbar es wäre, alleine zu sein". Sie macht darin aber das Alleinsein und die zwischenmenschliche Härte gerade als Signaturen der Gegenwart aus. Nicht selten wurde in jüngster Zeit die Frage gestellt, wie ein Roman über die Verwerfungen und die atmosphärischen Folgen dieser pandemischen Zeit aussehen könnte. Katharina Hacker gibt darauf eine sehr eigenwillige, aber durchaus überzeugende Antwort.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5627999
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.