Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik":Alphabet der Gefühle

Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik": Poladjans Figuren stecken in einer Zeitfalte: der Rote Platz im November 1985.

Poladjans Figuren stecken in einer Zeitfalte: der Rote Platz im November 1985.

(Foto: Boris Yurchenko/AP)

Hochmusikalisch und virtuos erzählt die in Moskau geborene Schriftstellerin Katerina Poladjan von den inneren Landschaften der späten Sowjetunion.

Von Maike Albath

Tiefe Melancholie. Dies ist die stärkste Empfindung, die einen schon auf der ersten Seite von Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik" überfällt. Wie kann es sein, dass alles Hoffnungsvolle und Offene der russischen Gegenwart schon wieder verflogen ist? Gerade erst schien es doch eine Zukunft zu geben, gerade erst deutete sich eine Wende an.

Poladjans Figuren stecken in einer Zeitfalte: Eine Epoche geht zu Ende, während sich etwas Neues andeutet, aber noch nicht begonnen hat. Die Schriftstellerin, 1971 in Moskau geboren und seit den späten siebziger Jahren in Deutschland zu Hause, lässt ihren perfekt komponierten Roman an einem einzigen Tag spielen, dem 11. März 1985, und erzeugt eine besondere Durchdringung von Zeit und Raum.

Es ist der Beginn der Ära Gorbatschow, wovon ihr mehrköpfiges Heldenensemble aber noch nichts ahnt. In der Luft liegt es dennoch. Die 20-jährige Janka erfährt während ihrer Nachtschicht in einer Glühbirnenfabrik irgendwo weit östlich von Moskau, dass der Oberste Sowjet gestorben sei, denn der Vorarbeiter hält ein Radio in die Höhe, aus dem Chopins Trauermarsch tönt. Allein diese Geste bringt das Verhältnis zur Macht auf den Punkt: Der Name des Staatsratsvorsitzenden fällt nicht. Der Staat ist eine diffuse, unsichtbare Größe, die alles bestimmt, genauso unvermeidlich wie die Luft zum Atmen.

Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik": Katerina Poladjan lebt seit 1979 in Deutschland. "Zukunftsmusik" ist ihr vierter Roman.

Katerina Poladjan lebt seit 1979 in Deutschland. "Zukunftsmusik" ist ihr vierter Roman.

(Foto: Carsten Koall/picture alliance/dpa)

Immer wieder gelingen Poladjan eindrückliche Szenen, die emblematisch werden: Wie der Ingenieursassistent Matwej Alexandrowitsch zu Hause in der Kommunalka, dem Hauptschauplatz von "Zukunftsmusik", den Küchentisch von Janka, ihrer Mutter Maria Nikolajewna und der Großmutter Warwara Michailowna beanstandet, weil er drei Zentimeter zu lang sei und damit gegen die Vorschriften verstoße. Oder wie Maria kurze Zeit später in ihrem verwaisten Natur- und Völkerkunde-Museum, wo sie angestellt ist, vom Parterre mit dem ausgestopften Mammut in den Saal mit den Lemmingen wechselt, die um einen Elch herumwimmeln.

Oder wie die Leute in einer langen Schlange an einem Geschäft anstehen, ohne zu wissen, was es dort zu kaufen gibt. Wie auf einer Drehbühne präsentiert die Autorin mal diesen, mal jenen Wirklichkeitsausschnitt, und abwechselnd rücken die drei Frauen Warwara, Maria und Janka in den Vordergrund, jede mit einer eigenen Geschichte und im Innersten einander fremd. Hinzu kommt Jankas kleine Tochter Kroschka sowie besagter Matwej, schwankend zwischen automatischer Pflichterfüllung und einer starken Zuneigung zu Maria, und Ippolit Iwanowitsch, ein Zugschaffner, der überraschenderweise und von allen unbemerkt mit Großmutter Warwara eine Liebschaft pflegt.

Hochmusikalisch und virtuos ist nicht nur die perspektivische Gestaltung mit Tempowechseln, inneren Monologen und bildhaften Vergleichen - die Luft ist "eine spitze, garstige Scherbe" -, sondern auch die Dialogführung. Sämtliche Figuren, Janka ausgenommen, sprechen so wohlerzogen und geschliffen miteinander wie in einer Tschechow-Erzählung. Da ist allenthalben von dem "Verehrtesten" und "meiner Lieben" die Rede, Siezen gehört dazu, jemand soll "eintreten", obwohl es sich um eine Sechs-Quadratmeter-Klause handelt. Das Gefälle zwischen der gewählten Ausdrucksweise und der überfüllten, heruntergekommenen Wohnung hat einen komischen Effekt.

Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik": Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 192 Seiten, 22 Euro.

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 192 Seiten, 22 Euro.

Für die Protagonisten bekommt die Sprache zugleich eine Schutzfunktion: Wer so elegant zu formulieren weiß, verteidigt seine Autonomie, verweigert sich den politischen Floskeln und bezieht sich stattdessen auf den Hallraum der literarischen Tradition. Immer wieder schwingen Anspielungen auf Turgenjew, Gogol und Bulgakow mit, zu dessen Ehren Poladjan eine surreale Vignette erfindet: Ein Kommunalka-Genosse, ein Professor, katapultiert sich mit einem wippenden Stuhl an elastischen Bändern und Spiralen durch das Dach direkt in den Himmel.

Wie beiläufig hingetupft wirken die Geschehnisse, die für jeden auf einen Höhepunkt zulaufen. Janka will am Abend in der Küche ein Konzert geben, ein Kwartirnik. Matwej muss einen tödlichen Unfall in der Humanzentrifuge in seinem wissenschaftlichen Institut miterleben, was etwas in ihm aufbrechen lässt. Maria entdeckt verschüttete Sehnsüchte. Und Warwara zelebriert ihr Techtelmechtel mit dem Zugschaffner im Nachbarzimmer, als sei sie eine Fürstin.

Die Schlusswendung von "Zukunftsmusik" ist tatsächlich zukunftstrunken: Wieder schwappt etwas Phantastisches in den Roman. Janka stößt in der überfüllten Kommunalka auf eine unbeachtete Tür, hinter der sich eine weite Landschaft auftut. Die junge Frau gerät in einen ungewohnten seelischen Zustand und fühlt sich wie "eine Genesende". Ähnlich wie in ihrem letzten Roman "Hier sind Löwen" zeigt Katerina Poladjan auch in "Zukunftsmusik", wie glänzend sie sich auf die Innenschau ihrer Figuren und deren emotionale Bindungen versteht. Ihr gelingt ein kleines, schimmerndes Alphabet der Gefühle in der späten Sowjetunion.

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