Stuttgart 21:Schwankende Neubauten

Wer die Voraussagen der Sachverständigen kennt, muss von dem Großprojekt "Stuttgart 21" dringend abraten: Im Untergrund des geplanten Bahnhofs lauern geologische Katastrophen, deren Auswirkungen nicht absehbar sind. Ein Experte warnt.

Gottfried Knapp

Auch wenn von den Befürchtungen der Fachleute nur ein Bruchteil wahr wird, könnten sich die Stadt Stuttgart, das Land Baden-Württemberg und die Deutsche Bahn bei der Verwirklichung ihres gemeinsamen Großprojekts Stuttgart 21 in ein Unglück stürzen, dessen Ende nicht absehbar ist.

Probesitzblockade gegen Stuttgart 21

Der Protest gegen das Bauvorhaben "Stuttgart 21" regt sich seit langem. Nun haben die Demonstranten neue Argumente: Der unterirdische Bahnhof ist aus geologischer Sicht ein Risikoprojekt.

(Foto: dpa)

Die vielen Gegner des ehrgeizigen Projekts haben sich in den letzten Wochen auf das akut vom Abriss bedrohte Bahnhofsgebäude und auf die kontinuierlich explodierenden Kostenvoranschläge konzentriert; doch wenn man die Risiken, die nach Meinung der Sachverständigen im Stuttgarter Untergrund auf die Tunnelbauer lauern, zur Kenntnis nimmt, wirken die derzeitig veranschlagten Kosten wie Schönwetterprognosen bei nahendem Hurrikan.

Stuttgart war immer schon ein Ort, an dem sich das höhere bautechnische Ingenieurwissen geballt hat wie nirgendwo sonst in Deutschland. Die führenden Köpfe der Stuttgarter Ingenieurschule gelten weltweit als Pioniere im Erproben neuer Bautechniken und als Instanzen in allen Problemfällen des Bauens. Doch beim weitaus komplexesten Bauprojekt der Stadt sind nach Meinung von Fachleuten die fälligen Voruntersuchungen nicht in der Intensität vorgenommen worden, die nötig gewesen wäre, um grünes Licht für das Projekt zu geben.

Frei Otto ist einer der Überväter der renommierten Stuttgarter Bau-Schule und einer der wichtigsten Konstrukteure der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ohne seine technisch-visionäre Vorarbeit hätte der Wunderbau des Münchner Olympiazelts nie errichtet werden können.

Frei Otto hat, vom Pritzker-Preis abgesehen, alle wichtigen Auszeichnungen auf dem Bausektor erhalten, doch in der Stadt, in der er als Architekt, Konstrukteur, Wissenschaftler und Lehrer ein Leben lang tätig war, wollte, nachdem Stuttgart 21 zum Projekt von "übergeordneter Bedeutung" erhoben worden war, niemand mehr auf den lästigen Propheten im eigenen Lande hören. Alle Anfragen und Warnungen, die Frei Otto an die offiziellen Stellen richtete, wurden mit Hinweisen auf "höhere Interessen" abgeschmettert.

Das ist umso rätselhafter, als Frei Otto Mitgewinner des Wettbewerbs für den künftigen unterirdischen Durchfahrbahnhof ist: Er hat den Siegerentwurf von Christoph Ingenhoven, der den begonnenen Vorarbeiten für den tiefgelegten Querbahnhof zugrunde liegt, in seinen konstruktiven Details präzise vorformuliert, also auch das Aussehen der Gleishalle wesentlich mitbestimmt.

Katastrophales Anschwellen des Bodens

Doch an der Eignung des Stuttgarter Talkessels für einen querschießenden Bahnhof, der als geschlossener Tunnel fast 100 Meter breit ist und zwölf Meter tief in die Erde hinabreicht, hat er immer gezweifelt. Außerdem wird der im Boden eingelassene Bahnhofsquerriegel den Schlossgarten in ganzer Breite durchschneiden, also die beiden derzeit nur durch eine Straße getrennten Teile des Parks noch einmal deutlich weiter auseinandertreiben.

Früh schon hat sich Frei Otto als Mitverantwortlicher darum nach den fälligen Untersuchungen des Grunds erkundigt, doch überzeugende Antworten sind die Behörden bis heute schuldig geblieben. Seit Januar 2009 ist Frei Otto jedenfalls aus dem Projekt Stuttgart 21 ausgeschieden.

Das schwerwiegende geologische Problem, auf das der Doyen der Stuttgarter Bausachverständigen hinweist, ist den lokalen Ämtern und Behörden fast notorisch bekannt. Doch die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die Risiken zu minimieren, reichen nach Meinung der Fachleute in keinem Fall aus.

Die Bahn verkündet in ihren Stuttgart-21-Broschüren, dass sie Hunderte Probebohrungen im ganzen Stadtgebiet durchgeführt habe, um die vier Tunnel, die kreuz und quer unter die Innenstadt geschoben werden müssen, sinnvoll zu postieren.

In diesen Werbeprospekten ist natürlich nicht davon die Rede, dass bei den Bodenuntersuchungen an vielen Stellen, wie befürchtet, Anhydrit gefunden worden ist; jenes Mineral, das, wenn es längere Zeit mit Feuchtigkeit in Berührung kommt, um 50 Prozent anschwillt und unaufhaltsam alles zur Höhe oder zur Seite drängt, was in seiner Nähe ist. "Salzsprengung" nennen die Physiker diesen Vorgang, der beim Berg- und Tunnelbau katastrophale Folgen hat. Wasser als Problem...

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Mineralwasser sorgt für Auftrieb

Um Wasser geht es aber in Stuttgart immer, wenn der Boden angegriffen wird. Die Stadt hat das Glück, über das zweitgrößte Mineralwasservorkommen in Europa zu verfügen. Der heutige Vorort Bad Cannstatt war im 19. Jahrhundert ein bekannter Kurort. Und auch heute noch werden vier der öffentlichen Schwimmbäder in der Stadt mit Mineralwasser beschickt.

Wie die Erdschichten, auf denen das Wasser ins Neckartal getragen wird, genau verlaufen, weiß niemand. Doch zumindest die beiden Tunnel, die von Norden und von Osten, also von Feuerbach und Bad Cannstatt aus den künftigen Bahnhof ansteuern, dürften in die kritische Zone einschneiden.

Sehr viel größer sind aber die Wasserprobleme, die der quer in den Talboden versenkte Bahnhof verursachen wird. Dass der lange schon in eine unterirdische Röhre verdrängte, das Tal durchziehende Nesenbach am Bahnhof um eine Stufe abgesenkt und am anderen Ende wieder hochgepumpt werden muss, ist dabei nur eine komische Zusatzpointe.

Bedrohlich ist, was mit dem für die Spannung im Boden so wichtigen Grundwasser passiert: Es wird durch die wie ein Pfropfen zwölf Meter tief in der Erde vorstoßende gigantische Betonwanne entscheidend gestört. Um hier das drohende Hochschwemmen der Wanne, also eine Auftriebkatastrophe wie ehedem beim Schürmann-Bau in Bonn, zu vermeiden, hat man sich zu abenteuerlichen Formen der "Wasserbewirtschaftung" entschlossen.

So soll das Grundwasser rund um die Wanne abgepumpt, aber gleichzeitig nebenan so im Boden gehalten werden, dass es die darüberstehenden Gebäude trägt. Wer sich das plastisch vor Augen führt, glaubt zu sehen, wie die Häuser am Talhang zu taumeln anfangen. Frei Otto jedenfalls hält es für durchaus möglich, dass der stolze Bahnhofsturm mit dem Mercedesstern, der nach den jetzigen Plänen den südlichen Seitenflügel des alten Bahnhofs als Flanke verliert und auch unterirdisch entblößt wird, sich irgendwann sanft zur Seite neigt.

Am schwersten zu kalkulieren sind aber die Probleme, die der in Stuttgart überall anstehende Mergelboden mit den eingeschlossenen Anhydrit-Anteilen aufwirft. Schon bei Probebohrungen kann Wasser zu den empfindlichen Stellen gelangen, das die Mineralteile so anschwellen lässt, dass sie die Erde darüber heben. Beim Bohren des 33 Kilometer langen, mehrgleisigen Tunnelsystems provozieren die Maschinenmonster jedenfalls das Schlimmste.

Regelmäßige Nachbesserungen und steigende Kosten

Warnungen aus der Umgebung hat es genug gegeben. Erst jüngst hat sich in Staufen im Breisgau der Boden aus vergleichbaren Gründen gefährlich gehoben. Auch der nahe bei Stuttgart gelegene sechsspurige Leonberger Autobahntunnel musste gegen drohende Salzsprengungen geschützt werden und ist darum sehr viel teurer geworden als veranschlagt.

Und mitten im 19. Jahrhundert haben die Erbauer des Weinsberger Eisenbahntunnels das ganze Drama, das in Stuttgart drohen könnte, in konzentrierter Form durchlebt. Dort hat sich der Boden des frisch gegrabenen Tunnels um monatlich 24 Zentimeter gehoben. Nur mit einem komplizierten Entwässerungssystem konnte man die Entwicklung aufhalten; doch seither musste das 891 Meter lange Problemobjekt in regelmäßigen Abständen nachgebessert werden. Die letzte Sanierung 2003 hat anderthalb Jahre in Anspruch genommen.

Schon die Vorstellung, dass beim Bau der um ein Vielfaches längeren Stuttgarter Tunnel auch nur ein einziger ähnlicher Problemfall auftauchen und die gesamte Planung um Jahre verzögern könnte, jagt einem Schauder über den Rücken. Und ruft einem in Erinnerung, dass beim offiziellen Planfeststellungsverfahren vor Jahren mehrere tausend Einsprüche von Bürgern eingegangen sind, die von den Ämtern nie beantwortet worden sind.

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