Süddeutsche Zeitung

Wende-Hymne:Qualitätsmerkmal: "Ostrock"

Das Liebeslied "Als ich fortging" der DDR-Band "Karussell" war subtiler Protest - und wurde zur Wende-Hymne. Sänger Dirk Michaelis über die ganz eigene Poesie des Ostens.

Interview von Antonie Rietzschel

Zu DDR-Zeiten sangen Bands wie Karat, City oder Silly von Freiheit und von dem Wunsch, abzuhauen. Und zwar so, dass die Zensurbehörden ihre Songs schwer verbieten konnten. Dirk Michaelis, 57, war in den Achtzigern Sänger der Band Karussell. Die schuf mit dem Lied "Als ich fortging" eine der schönsten Wende-Hymnen. Sie wurde mittlerweile vielfach gecovert, unter anderem von Bands wie Rosenstolz und Tokio Hotel.

SZ: Sie sind in Ost-Berlin in einer Künstler-Familie aufgewachsen. Ihr Stiefvater war Leiter des Gerd Michaelis Chors, Ihre Mutter Tänzerin im Friedrichstadtpalast. Schon als Kind haben Sie Gesangsunterricht genommen. Stimmt es, dass Sie die Melodie von "Als ich fortging" bereits mit zwölf Jahren komponiert haben?

Dirk Michaelis: Ich würde es nicht komponieren nennen. Da saß ein Junge mit schwerem Herzen am Klavier, als ihn diese Melodie erreichte.

Was hat Sie so gequält?

Als Teenager weitet sich das Herz und es gibt mehr Platz zum Liebhaben, nicht nur für Mutti und Vati. Dann kommt eine Schulliebe dazu, und noch eine, und noch eine. Dann wird man verlassen.

Die Melodie hat Sie immer begleitet. Auch als Sie 1985 Sänger bei Karussell wurden, einer Band, die vor allem für Blues-Rock bekannt war.

Wir haben das Lied als eines von vielen Demos eingespielt. Ganz reduziert mit dem Keyboard, ich habe dazu gesummt. Tatsächlich war das Lied aber für unser erstes gemeinsames Album "Café Anonym" nicht in der engeren Auswahl. Das passierte später, als wir im Proberaum zusammensaßen. Ich weiß noch, dass wir in eine hitzige Diskussion vertieft waren. Die Aufnahmen liefen eher nebenher, waren sehr rockig, sehr bemüht. Plötzlich knallte dieses Stück rein und alle hielten inne.

Sie hatten die Melodie, aber keinen Text. Den schrieb die Lyrikerin Gisela Steineckert. Eine Zeile lautet "Nichts ist von Dauer, wenn's keiner recht will. Auch die Trauer wird da sein, schwach und klein." Haben Sie damals verstanden, worum es ging?

Um ehrlich zu sein, war mir "Als ich fortging" zunächst zu poetisch.

Dabei war doch gerade Poesie ein zentrales Instrument, um die Zensur auszutricksen.

Im Westen sang Rio Reiser: "Macht kaputt, was euch kaputt macht". Im Osten sang die Band Lift: "Nach Süden nach Süden wollte ich fliegen. (...) Doch gar nicht weit hinterm Haus, da fiel schon der erste Schnee". Die Menschen in der DDR wussten, worum es in diesen Zeilen geht. Um die Sehnsucht nach Freiheit.

Auch "Als ich fortging" war erst mal ein Lied über die Schwierigkeit des Loslassens, im Wissen, dass gerade etwas zu Ende gegangen ist.

Das passte natürlich in die Wendezeit. Wenn ein Song veröffentlicht wird, machen die Menschen daraus, was sie wollen. Der eine findet "Als ich fortging" sei das schönste und traurigste Liebeslied der DDR. Der andere nennt es eine Wende-Hymne. Beides passt.

Als vor 30 Jahren die Mauer fiel, traten Sie im Palast der Republik in Berlin auf. Wie war die Stimmung?

Am 10. November glaubten wir, dass kein Schwein kommt, weil alle im Westen sind. Doch es war voll. Im Saal herrschte eine Mischung aus Hoffnung und unbezwingbarem Glauben, dass jetzt das Größte und Beste passiert, was wir uns vorstellen können: Beide Systeme werden einen Weg finden, das jeweils Beste herauszufiltern und zusammenzuführen. Wir glaubten daran, das tollste Land der Welt zu werden.

Was passierte, als Sie "Als ich fortging" anstimmten?

Alle sangen aus voller Kehle mit: "Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein / Ich weiß, du willst unendlich sein - schwach und klein." Die Leute weinten. Auch ich hatte einen Kloß im Hals. Auf einmal war ich nicht mehr nur Sänger, sondern Teil der Menschen im Publikum, der Energie. Ich hörte mir selbst zu.

Die Musik von Bands wie Karussell, Lift oder City wird heute in der Kategorie "Ostrock" einsortiert - das klingt irgendwie nach Ramschecke.

Ich war mal mit Ulla Meinecke auf Tour. Sie wurde immer als Grande Dame des deutschen Chansons vorgestellt, ich war der Ostmusiker. Damals empfand ich das als Geringschätzung. Mittlerweile verstehe ich diese Zuschreibung als Qualitätsmerkmal. Die Poesie des Ostens ist etwas Einzigartiges.

Sie sind schon lange als Solo-Musiker unterwegs. "Als ich fortging" gehört aber immer noch zu Ihrem Repertoire. Was verbinden die Menschen im Osten heute mit dieser Musik?

Sie ist der Beweis, dass es uns gab und die Zeit, in der wir gelebt haben. Sie gibt Halt und bewahrt die eigene Biografie.

Muss man in der DDR aufgewachsen sein, um den Wert von "Ostrock" zu verstehen?

Ich weiß nicht, ob Westdeutsche die Entbehrungen und Sehnsüchte nachvollziehen können, die diese Musik hervorgebracht haben. Das Fehlen von Freiheit. Dieses Gefühl muss ich jemandem, der in der DDR aufgewachsen ist, nicht erklären. Andererseits habe ich vor Kurzem eine Mail aus dem tiefsten Westen bekommen. Da hat jemand "Als ich fortging" gehört und schrieb mir. "So ein schönes Lied habe ich lange nicht gehört, weiter so." Der Schreiber glaubte, das sei ein neuer Song. Ich musste erst mal lachen. Aber dann habe ich mich gefreut, dass dieses Lied offenbar zeitlos ist.

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