Karl Ove Knausgård: "Der Morgenstern":Wird böse enden

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Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård beginnt mit "Der Morgenstern" einen neuen Mehrteiler. (Foto: Beatrice Lundborg/IMAGO/TT)

Die Welt ist außer Rand und Band, aber der Alltag muss weitergehen: Karl Ove Knausgårds "Der Morgenstern" ist ein Roman für alle, die mit seiner Ich-Beschau bisher nichts anfangen konnten.

Von Johanna-Charlotte Horst

Die Dinge gehen ihren gewohnten Gang. Der Alltag läuft einfach weiter. Und doch ist alles in ein anderes Licht getaucht. Am Himmel gibt es einen neuen Stern. Die Leute nennen ihn Morgenstern. Ohne Eile erzählt Karl Ove Knausgård in seinem Roman "Der Morgenstern" alles, was nur irgendwie erzählbar ist. Die üblichen Knausgård-Zutaten fehlen nicht. Es werden Kinder gefüttert, Küchen aufgeräumt, Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht. Ab und zu schieben sich mehr oder weniger gescheite Reflexionen über Gott und die Welt zwischen die alltäglichen Routinen. Und auch der besondere Sound ist zum Glück noch da. Wer Knausgård kauft, will auch Knausgård lesen. Er ist mittlerweile zu einer Marke geworden. Sie ist so markant, dass man sie entweder liebt und nach immer mehr vom Gleichen lechzt. Oder man will nichts mehr von diesem narzisstischen Norweger hören.

Das Geschehen entfaltet sich über mehrere Hundert Seiten in epischer, präziser: in episodischer Breite. Denn eines ist doch neu an diesem neuen Buch: Knausgårds stabile Ich-Konzentration, die die Leserschaft bisher zur Identifikation von Erzähler und Autor zwang, zerstreut sich auf die Vielfalt verschiedener Perspektiven.

Zwei Tage erzählte Zeit verteilen sich auf fünf Erzählerinnen und vier Erzähler. Augenscheinlich war der Autor bei der Zusammenstellung seines Figuren-Ensembles um Vielfalt bemüht. Da gibt es eine sehr junge Frau mit türkisch klingendem Namen und einen verwirrten Literaturprofessor, der wie sein Freund, ein Dokumentarfilmer, zu viel Alkohol trinkt. Da gibt es eine Krankenschwester, die ihre Arbeit hasst und ihren Ehemann, ein abgehalfterter Journalist, der um Aufmerksamkeit ringt, eine Pastorin, die unglücklich und eine Kuratorin, die glücklich verheiratet ist. Einen Diversitäts-Check würde diese Gruppe sicher nicht bestehen. Wahrscheinlich geht es dem Autor darum auch gar nicht. Trotz ihrer je eigenen Erfahrungen leben alle Figuren in der gleichen Welt. Und zwar in einer, die mit dem Auftauchen des unbekannten Sterns aus den Fugen zu geraten droht.

"Etwas Schreckliches würde geschehen."

Damit trifft Knausgård, was die kollektive Erfahrung der Gegenwart ausmacht. Pandemie, Krieg und Klimawandel machen kaum Halt vor dem Alltagsleben. Nur noch punktuell lassen sich die verschiedenen Krisen ignorieren.

Jostein, einer der Protagonisten, bringt auf den Punkt, was auch die anderen auf die eine oder andere Weise fühlen. Der Stern sei "schön und unheimlich". Warum unheimlich? Jostein findet erst einmal keine Antwort darauf. Wie alle anderen hofft auch er auf eine wissenschaftliche Erklärung. Von einer ähnlich bedrohlichen Erfahrung berichtete Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen" aus dem Jahr 1985. Ein Chemieunfall mit unabsehbaren Folgen stürzt das Leben einer US-amerikanischen Kleinstadt ins Chaos. Nebeneffekt des Debakels sind besonders farbintensive Sonnenuntergänge. Obwohl alle die Ursache für das Naturspektakel kennen, wird das ästhetische Vergnügen in vollen Zügen genossen.

Auch in "Der Morgenstern" begegnet man der Schönheit des Sterns ambivalent. Die Menschen fürchten, dass er eine Katastrophe ankündigt. Eine der Erzählerinnen weiß: "Etwas Schreckliches würde geschehen." Quälend ist in dieser Situation vor allem die Ungewissheit darüber, was das sein könnte.

Den Protagonisten bleibt nichts anderes, als weiterzumachen wie immer

Kierkegaard, der bei Knausgård immer dann auftaucht, wenn Tiefsinn auf dem Plan steht, unterscheidet zwischen Furcht und Angst. Man fürchtet sich vor etwas Bestimmten, vor Unbekanntem hat man Angst. Wie in einem Horrorfilm ist der Grusel gerade deshalb so unerträglich, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Der Morgenstern steht wie ein Zeichen am Himmel, das nicht entzifferbar ist. Gleichzeitig passieren auf der Erde unerklärliche Dinge: Vögel kreischen ganz anders als sonst, Elche kommen den Menschen viel näher als üblich, klinisch für tot erklärte Menschen wachen gegen alle wissenschaftliche Vernunft wieder auf.

Offensichtlich hat all das mit dem Auftauchen des Sterns zu tun. Aber wie, bleibt bis zum Schluss ein Rätsel. Die Spannung wird im Laufe des Buches immer größer. Oft brechen die Episoden gerade dann abrupt ab, wenn die Leserin sich kurz vor der Auflösung wähnt.

Die Welt ist aus den Fugen. Etwas Grundsätzliches stimmt nicht mehr. Dabei lässt der große Knall auf sich warten. Den Protagonisten bleibt nichts anderes, als weiterzumachen wie immer. So kann Knausgård bei seinem Lieblingsthema bleiben und ausführlich über den Alltag schreiben. Der Leserin geht es ähnlich wie den Romanfiguren: Alles scheint normal im Knausgård-Universum. Er erzählt mal wieder vom Einkaufen und Aufräumen, während es im Untergrund brodelt.

Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2022. 896 Seiten, 28 Euro. (Foto: N/A)

Wenn eine der Romanheldinnen feststellt, der Stern definiere den Himmel neu, dann ist das auch ein Sinnbild für die Poetik dieses Romans. Der Autor probiert hier etwas Neues aus. Er erzählt zwar noch von Alltäglichem, gleichzeitig aber auch von einer weltumspannenden Krise: "Es ging darum, dass die Welt, so still und glatt, auf einmal anfing, unruhig zu werden."

Diesen Satz denkt der Ich-Erzähler Egil, der fürs Theoretische zuständig ist. Mit einem Essay, als dessen Autor diese Figur firmiert, endet der Roman. Er trägt den existenziellen Titel "Über den Tod und die Toten". Zwischen Philosophischem und Anekdotischem mäandernd kommen hier die vielen narrativen Fäden in der Frage nach dem Tod zusammen. Der Essayist meint erkannt zu haben, dass die Schriftsprache der Horizont der Kultur, der Tod der Horizont des Lebens sei.

Die Schriftsprache sei als Erstes dazu benutzt worden, sich dem Tod zuzuwenden. Kurz: Alle Literatur hat mit dem Tod zu tun. Das klingt nach flachem Tiefsinn. Wann immer Knausgård Essayartiges in seine Bücher hineinmontiert, unterbricht er seine Poetik des Rohen, die auf das Lektorat programmatisch verzichtet. In diesem Modus überträgt sich der Rausch des Schreibens auf die Leserschaft. Wie beim Binge-Watching von Serien führt Knausgårds Binge-Writing zum Binge-Reading. Egils Essay bremst diese Dynamik am Ende aus, ohne dass er mehr als Bildungsbeflissenes zu schreiben weiß.

Interessant ist dennoch, dass Knausgård selbst sich beim Schreiben immer schon mit dem Tod beschäftigt hat. Das ist nicht zu überlesen. Der erste Band seiner monumentalen Autobiografie trägt den Titel "Sterben". Gleich zu Beginn ist da von der Allgegenwart der Toten die Rede. Mehrere Tausend Seiten später wird der Tod gar als Metapher für den Alltag ausgewiesen. Die Gewissheit zu sterben, so Knausgård, ist die "vollständige menschliche Katastrophe". Sie ist nicht außeralltäglich, sondern steckt immer schon im Gewöhnlichen.

In "Der Morgenstern" tritt der Tod unter umgekehrten Vorzeichen auf. Bedrohlich ist nicht das Sterben. Als noch schrecklicher erweist es sich, wenn niemand mehr ins Reich der Toten Einlass findet. Der Dante-Leser Knausgård ist mit der Architektur des Limbus vertraut. Schön ist sie nicht. In einem Essay zur "Göttlichen Komödie" stellt Knausgård die Vorhölle anschaulich vor Augen. Eine Landschaft voll blubbernden Schlamms und stinkenden Morasts, in der die beschädigten Körper der Untoten herumlungern und keine Ruhe finden.

Am Ende von "Der Morgenstern", so viel sei verraten, wird einer der Protagonisten an den Rand des Totenreichs katapultiert. Warum und wie es weitergeht, das erfährt die Leserschaft hoffentlich in den angekündigten Fortsetzungsromanen. Knausgård scheint nicht anders zu können, als einfach immer weiter zu schreiben. Wer nicht warten möchte, der kann zur Auflösung im Gesamtœuvre von vorn anfangen. Da ist alles schon gesagt. Denn Knausgård produziert nicht einfach ein Buch nach dem anderen, er erschafft eine ganze Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Das ist aufregend und stattet jedes neue Werk mit einer besonderen Wucht aus.

Und wer es mit den autobiografischen Büchern versucht hat, aber nicht für den Charme des Familienvaters Knausgård empfänglich ist, wer nicht wissen will, was bei den Knausgårds zurzeit los ist, für den könnte "Der Morgenstern" doch noch etwas sein. In diesem Buch geht es nicht um das Privatleben des Autors, sondern um die Gegenwart und ihre Krisen.

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