Karibik:Der erste Ort der Moderne

Die Traumregion Karibik ohne die üblichen Klischees: Sie war, schreibt der Soziologe Paul Gilroy, der erste Ort der Moderne. Und ein riesiges Versuchslabor.

Von Jonathan Fischer

Die Karibik: was für eine Klischee-Maschine! Wir assoziieren mit ihr Traumstrände und tropische Naturschönheit, üppige Feste und sinnlichen Rausch. Die von der Tourismusindustrie geschaffenen Paradies-Mythen haben sich längst verselbständigt. Umso schwieriger, einen Bildband über das Inselleben zusammenzustellen, der unter die Oberflächen schaut. Der eine komplexe Geschichte von Kolonialismus und afrikanischem Kulturerbe, Revolutionen und Diktatoren erzählt. Einen Politthriller. Dem vom Londoner Plattenlabel Soul Jazz Records herausgegebenen Fotobuch "90 Degrees of Shade - Image and Identity In the West Indies" (Soul Jazz Books, London 2014, 200 S., 34,33 Dollar, englisch) gelingt über eine Spanne von hundert Jahren genau das - neugierig zu machen. Auf die erste multikulturelle Gesellschaft der Welt, wie sie Fotos von indischen Arbeiterfrauen um 1900, von Enkeln afrikanischer Sklaven beim Bananen-Verladen, und Rebellentruppen aller Hautfarben während des kubanisch-spanischen Kriegs belegen.

Seit der Kolonisierung im 16. Jahrhundert stellte die Karibik ein gigantisches, künstliches Versuchslabor dar. Das ökonomische System der Herren-und-Sklaven-Gesellschaft, die Verschleppung von Millionen Sklaven aus Afrika, die Ausbeutung importierter chinesischer, indischer und portugiesischer Arbeitskräfte generierte - als ungewolltes Abfallprodukt - eben auch eine aufregende, schillernde Multikulturalität. "Die Karibik", schreibt der britische Soziologe Paul Gilroy im Vorwort, "war der erste Ort der Moderne." Wo sonst ließen sich die zeitgemäßen Ideen von Pluralität und Vermischung, die Vision eines "kreolisierten" Planeten besser festmachen?

Mehr als 230 Fototafeln im LP-Format zeigen die Menschen der Karibik ebenso beim Schuften wie beim Feiern, als Baumwollbauern auf Jamaika wie als Einwanderer in London. Dem grellen Zauber von Voodoo und Karneval werden mehrere Parallelwelten entgegengesetzt. Man sieht die karibische Selbstinszenierung amerikanischer Filmschauspieler und nur für Weiße zugelassene Hotelpools - die Karibik der Fünfziger als Vorgarten Amerikas. Fidel Castros Siegeszug darf nicht fehlen, wie auch das jamaikanische "Gun Court"-Gefängnis in den Siebzigern, der bewaffnete haitianische Tonton-Macoute-Milizionär, die US-Soldaten bei der Invasion Grenadas 1983. Es sind gut gesetzte Stolpersteine, die einen beim Blättern durch bunte Marktszenen, euphorisierte Tänzer und rauschende Steel-Drum-Umzüge in die politische Wirklichkeit zurückholen. Oder um nochmals Gilroy zu zitieren: "Die Rebellenkulturen der West Indies wie auch die politischen Revolutionen in Haiti und Kuba haben einen weltweiten kulturellen Einfluss gehabt." Dieses Buch erinnert an die - allzu oft vergessene - Geschichte hinter der Geschichte.

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