Kapitalismuskritik:Der Mensch erträgt sich selbst kaum noch

Kapitalismuskritik: Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 446 Seiten, 28 Euro. E-Book 23,99 Euro.

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 446 Seiten, 28 Euro. E-Book 23,99 Euro.

Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing geht in den Wald und findet dort zwischen den Pilzen neue Erzählungen.

Von Meredith Haaf

Der Matsutake sieht aus wie ein ruppiger Kräuter-Seitling, er gilt in Japan, Korea und China als Spezialität und wegen seiner gesundheitsfördernden Eigenschaften unter Ernährungsinteressierten als so genanntes Super-Food. In Butter oder Öl gebraten verbreitet er einen scheußlichen Gestank, wie Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch "Der Pilz am Ende der Welt" schreibt; trocken gebraten, als Teil einer Suppe oder eines Pfannengerichts entfalte er "das Wunder herbstlicher Aromen", heißt es in einer japanischen Gedichtsammlung des 8. Jahrhunderts.

Der Matsutake ist aber nicht nur im Sinne des Gourmets ein besonderes Gewächs, er gehört auch zu den Arten unseres Planeten, die dort gedeihen, wo Tod und Zerstörung gewütet haben. Er ist einer dieser post-apokalyptischen Super-Performer, zu denen wir auch Kakerlaken oder Ratten rechnen, aber nicht uns Menschen. In den Kieferwäldern der Pazifikregion wächst Matsutake dort, wo der Mensch in den natürlichen Waldwuchs eingegriffen hat - durch Rodungen und Waldbrandkontrolle. Wo Bäume sterben, wachsen Pilze; sie versorgen neu wachsende Pflanzen mit Nährstoffen. Auch für diese Eigenschaft wird er in Japan besonders geschätzt.

Als Hiroshima 1945 von einer amerikanischen Atombombe zerstört wurde, war "das erste Lebewesen, das in der verheerten Landschaft aus dem Boden kam, angeblich ein Matsutake", schreibt Anna Lowenhaupt Tsing. Die Amerikanerin, die an der University of California, Santa Cruz, lehrt, gehört zu einer wachsenden Gruppe von politisch alerten Anthropologen, die sich nach Strategien im Umgang mit den Verheerungen des Anthropozäns, des menschgeprägten Zeitalters, umschauen. Müssen wir uns jetzt den Pilz als den besseren Menschen vorstellen? Es hat sich ja in den letzten Jahren auf dem Buchmarkt ein eigenes Genre des Natur-Essays etabliert, in dem man sich über "Das geheime Leben der Bäume" informieren, mal Schafe, Krähe, Wölfe oder Mikroben besser kennenlernen kann.

Dahinter steckt zum einen der Trend zur Aufwertung unserer natürlichen Umwelt, zum anderen Eskapismus. Was die Tier-Dokumentation für das Abendprogramm von Fernsehzuschauern ist, die sich nicht bei Talkshowstreitereien oder Unterhaltungsformaten beruhigen können, ist die skeptische Artenliteratur für diejenigen, die Zerstreuung im Buch suchen. In fast jeder Saison zieht wieder ein zivilisationsmüder Schreiber raus in die Wildnis, um an Tieren, Pflanzen oder Wasserwegen zu erkunden, wie es anders gehen könnte mit dem Leben in dieser komplizierten Welt.

Diese Bücher werden gern gekauft und gelesen. Da Mangel an politischen Utopien und Heilsversprechen herrscht, könnten wir vielleicht etwas bei den anderen Lebewesen finden, die diesen gebeutelten Planeten mit uns teilen. Bei jenen Lebewesen, die bislang anders als unsere Art davon abgesehen haben, die Meer und Flüsse mit Plastik, Hormonen oder Mineralölen zu kontaminieren, die nicht mit ihren Straßen und Häusern sämtlichen Wildwuchs zupflastern, mit ihren Hochhäusern und Insektenvergiftungen die Vögel traktieren und mit ihren Individualkarren die Luft verschmutzen.

Alles klar: Der Mensch war in der Gesamtschau wahrscheinlich noch nie so freundlich und zivilisiert im Umgang mit seinen Artgenossen - was nicht bedeutet, dass er besonders freundlich ist, aber dass es auch schlimmer geht und lange Zeit ging. Trotzdem, scheint es, kann er sich selbst immer weniger ertragen.

"Was tun, wenn einem die Welt in Stücke geht? Ich gehe spazieren ..."

Der Pilz war uns Menschen lange Zeit insofern voraus, als dass seine Netze riesige Räume unterlaufen. Tsing ist allerdings weniger an einem Abgleich der Arten interessiert. Ihr Buch beginnt zwar so: "Was tun, wenn einem die Welt in Stücke geht? Ich gehe spazieren, und wenn ich sehr viel Glück habe, finde ich Pilze." An einem schlechten Tag kann man das als naturverliebte Heilsprosa lesen, aber bei "Der Pilz am Ende der Welt" handelt es sich um etwas anderes: Dieses intellektuell und sprachlich bisweilen sperrige Buch ist vor allem ein Versuch, anders von Sinnen und Sinnzusammenhängen zu erzählen, als wir es gewohnt sind. Zwar ist Tsing auch von einer eindeutigen Menschenmüdigkeit getrieben: "Das Weltklima spielt verrückt und der industrielle Fortschritt hat sich als weit tödlicher erwiesen, als man es sich noch vor einem Jahrhundert vorzustellen wagte. Die Wirtschaft ist keine Quelle des Wachstums oder des Optimismus mehr." Aber sie ist eben auch Wissenschaftlerin. Als Anthropologin verfolgt sie erklärtermaßen das Lebensprojekt, den Menschen endlich dort zu positionieren, wo es für alle am besten wäre, auf der Flügelposition der Geschichte. Und so erzählt sie in ihrem Buch die Geschichte einer welt-und artenumspannenden Kollaboration: Baum, Pilz und Mensch greifen in ihren Lebens- und Überlebensstrategien hier in- und zueinander, und zwar immer dort, wo sie den Zumutungen des Kapitalismus ausgesetzt sind. Es sind seltsamerweise sehr häufig Angehörige vertriebener Minderheiten, die zu professionellen Matsutake-Sammlern in den Wäldern Japans und Oregons werden. "In der kapitalistischen Logik der Kommerzialisierung werden die Dinge aus ihren Lebenswelten gerissen, damit sie Tauschobjekte werden können. Diesen Prozess nenne ich ,Entfremdung' und ich schreibe den Begriff gegebenenfalls Menschen wie Nicht-Menschen zu."

Man kann diese Entscheidung, den Entfremdungsbegriff mal eben ein bisschen umzudefinieren, akzeptieren. Beschwerlicher wirkt der etwas unentschlossene Duktus, der ständig zwischen poetisch und professoral changiert und den Lesefluss hemmt: "Als ich 2004 durch die Kaskaden streifte, hatten sich die Fichten- und Drehkiefernbestände schon weit ausgedehnt in einem Gebiet, das einst fast ausschließlich von Ponderosa-Kiefern besiedelt war. Obwohl es entlang der Überlandstraße noch immer Schilder mit der Aufschrift ,Holzindustrie' gab, fiel es schwer, sich dergleichen vorzustellen."

Dies ist die Sprache von Menschen, die darum kämpfen Verbindungen herzustellen, die für ihr Publikum nicht leicht einzusehen sind. Es ist keine gute Essay-Sprache, sondern die Sprache des Künstler-Vortrags bei einem Performance-Festival. Es ist geradezu faszinierend, dass ein Buch das Verflechtung und Symbiose zum Thema hat, strukturell so fragmentiert sein kann: Absätze beginnen unvermittelt, ständig gehen irgendwelche Wissenschaftler oder Protagonisten ein und aus, ohne dass sie jemals eingeführt wurden. Tsing "folgt dem Matsutake" über dessen ganzen Lebensraum, aber für die Leserin sieht die Erfahrung wie ein sehr langer Marsch durch einen verschlungenen Tunnel aus.

Das ist bedauerlich - weil Tsing so viele interessante Überlegungen anbringt. Ein kleines Meisterwerk ist etwa das Kapitel über das Riechen, eine der Sinneswahrnehmungen, für die wir viel zu wenig übrig haben: "Der Geruch zieht uns dahin, wo Erinnerung und Möglichkeit miteinander verflochten sind." Der Matsutake werde von Tieren wie Menschen für seinen Duft geschätzt, für etwas, das undefinierbar sei. Warum also nicht die Frage stellen, wie das Undefinierbare unser Handeln leitet?

Zu lange, schreibt Tsing, habe der Mensch die Vorstellung gehegt, es gehe um das Überleben nach der Katastrophe. Aber die Katastrophe sei längst eingetreten. Prekäres Leben sei nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Die Zeit sei "reif, unsere Prekarität zu spüren" und uns in ihr einzurichten. Dafür brauche es nicht Strategien des Überlebens, sondern eine Bewegung des Zusammenlebens.

Im Pilz findet Tsing nicht so sehr die Antwort auf die Unzulänglichkeit der zivilisatorischen Gegenwart. Aber doch ein neuen gedanklichen Rahmen für das Gruselgemälde, das sich die Menschheit zum Thema "Zukunft" erschaffen hat.

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