Kapitalismus:Wie Kapital in Anwaltskanzleien geschaffen wird

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Als Kapitalismuskritik Mainstream war: Occupy Wall Street im Jahr 2011 (Foto: LUCAS JACKSON/REUTERS)

Die Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor liefert die Kapitalismuskritik der Stunde.

Von Georg Simmerl

Vielleicht ist nun Zeit, sich wieder daran zu erinnern: Am Anfang, ganz am Anfang der nicht enden wollenden Krisenkaskade, in der wir leben, war Kapitalismuskritik für einen Moment Allgemeingut geworden.

Es war der Moment, als im September 2008 Lehmann Brothers pleiteging und plötzlich die Möglichkeit vor aller Augen stand, dass das globale Wirtschaftssystem tatsächlich zusammenbrechen könnte. Über die Auswüchse des Finanzkapitalismus erhob sich wütende Empörung. Aufklärung wurde gefordert, im Angesicht kaum zu durchschauender Finanzierungsinstrumente, Schuldenverhältnisse und Unternehmensstrukturen. Keine Regierung, die noch ohne Klagen über gierige Banker ausgekommen wäre.

Doch die Verallgemeinerung der Kapitalismuskritik blieb praktisch folgenlos. Die Politik sah sich zu einer Bankenrettung genötigt, die private Verluste sozialisierte. Und obwohl im folgenden Wirtschaftsabschwung die Ungleichheit eskalierte und sogar die Positionen von "Occupy Wall Street" mehrheitsfähig schienen, fand sich die Mehrheit bald mit einer Systemstabilisierung unter ebendiesen Bedingungen bereitwillig ab.

Die globale Aufmerksamkeit noch einmal auf die Anliegen jener Kapitalismuskritik zu richten, die sich aus der Finanzkrise von 2008 ergeben hatte, ist zwischen Euro- und Migrationskrise und dem Aufstieg neuer Nationalismen bislang nur dem französischen Ökonomen Thomas Piketty und der Enthüllung der Panama Papers gelungen.

Letztlich geht es um Privilegien

Unter dem Titel "Der Code des Kapitals" ist in deutscher Übersetzung ein Werk der Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor erschienen, das diese Anliegen wieder aufnimmt. Die Entwicklungstendenz wachsender Ungleichheit, die dem Kapitalismus von Piketty statistisch nachgewiesen wurde, erklärt Pistor durch die Geschichte seiner rechtlichen Verfasstheit. Dadurch eröffnet sie auch einen klärenden Blick auf notorische Geschäftspraktiken und Unternehmensstrukturen, die im Zuge der Finanzkrise ruchbar geworden sind.

Das Wesen des Kapitals gibt sich für Pistor gerade in Zeiten großer Konjunktureinbrüche und massenhafter Insolvenzen zu erkennen. Dann zeigt sich, dass es rechtliche Attribute sind, die das Wesen des Kapitals ausmachen: Bestimmte Vermögenswerte sind in ihrem Bestand besser geschützt, ihre Konvertierbarkeit in Staatsgeld wird garantiert und bestimmte Ansprüche - auch mit Wirkung gegen Dritte - werden prioritär bedient und durchgesetzt. Und in diesen rechtlichen Attributen erkennt Pistor auch die Voraussetzung für die stetig wachsende Ungleichheit im Kapitalismus.

Letztlich sind es Privilegien - und deswegen auch gewiss keine Naturgegebenheiten. Jedwedes Gut, sei es nun eine Sache oder eine Idee, kann mit ihnen ausgestattet und damit zu Kapital gemacht werden. In diesem Prozess, den Pistor "Codierung" nennt, wird also nicht nur Vermögen geschützt, sondern auch neues Vermögen geschaffen.

Die Stunde der Großkanzleien

Da die "Codierung" zwar auf die Anerkennung und Absicherung durch staatliche Gewalt angewiesen ist, sich aber vor allem im Privatrecht vollzieht, gibt Pistor der Entstehungsgeschichte des Kapitals auch einen neuen, stillen Helden. Es ist nicht mehr das ingeniöse Unternehmertum, nicht die ausgebeutete Arbeiterschaft, sondern die rechtschaffende Anwaltschaft.

Pistors Analyse der globalen Ökonomie der Gegenwart rückt nämlich das hintergründige Wirken internationaler Großkanzleien in den Fokus. Weil sich in den meisten Staaten die angelsächsische Gründungstheorie durchgesetzt hat, nach der für ausländische Gesellschaftsformen das Recht ihres Gründungsortes maßgeblich bleibt, sind der Kreativität der Anwaltschaft kaum noch Grenzen gesetzt.

Bevorzugt auf Grundlage der Rechtssysteme von New York und Großbritannien erschaffen sie für ihre Klienten neue Kapitalformen, etwa verbriefte Kredite oder geistige Eigentumsrechte. Und um die daraus entstehenden Vermögenswerte abzuschirmen, konstruieren sie Unternehmenskonglomerate aus einem weltweit verstreuten Netz juristischer Personen, mit denen zugleich Steuern vermieden und Regulierungen umgangen werden.

Auch wenn diese Zusammenhänge manchen grundsätzlich bekannt sein mögen, so überzeugt das Buch doch durch eine luzide Darstellung ihrer rechtlichen Genese. Die Entstehung zentraler privatrechtlicher Module, die heute bei der Codierung von Kapital zur Anwendung kommen, verfolgt Pistor bis ins britische Empire des 16. Jahrhunderts zurück, als die älteste Reichtumsquelle - Grund und Boden - in Kapital verwandelt wurde.

Die Einhegung der Gemeingüter erzählt sie anhand der juristischen Kämpfe, in denen die Landlords allmählich moderne Eigentumsrechte erstritten. Und da das Gesellschaftsrecht, das Landanwälte daraufhin zur Abschirmung des neu erworbenen Eigentums der adligen Gutsherren vor ihren Gläubigern anwandten, bald auch bei der Konstruktion von Kapitalgesellschaften zur Anwendung kam, spricht Pistor mit dem Rechtshistoriker Bernard Rudden auch von einem "feudalen Kalkül", das dem Kapital noch immer innewohnt. Seiner Genese nach ist das heutige "Imperium des Rechts", das die an der Columbia Law School lehrende Pistor analysiert, aber in jedem Fall ein Imperium des angelsächsischen Common Law.

Das Herzstück der Studie bildet die "institutionelle Autopsie" der Bank Lehmann Brothers. Unter fortlaufendem Rückgriff auf Beispiele aus der Rechtsgeschichte führt Pistor dabei eine eindrückliche Untersuchung der weit verzweigten Struktur des Unternehmens und seiner Geschäftspraktiken durch. Egal, ob es dabei um Schuldeninstrumente des Derivatehandels, ein System automatischer Transaktionen zur Umgehung von EU-Richtlinien oder Verlustverschiebung in unzählige Tochtergesellschaften geht: Bei allem Detailreichtum löst sie stets ihren Anspruch ein, auch für Nicht-Juristen verständlich zu bleiben.

Statt Klassenkämpfe sieht Pistor Rechtsstreitigkeiten

Spätestens, wenn sich Pistor der digitalen Ökonomie zuwendet, gehen zwischen den untersuchten "Codes" allerdings auch analytische Lücken auf. Zwar kann sie anhand von Kryptowährungen und Smart Contracts zeigen, warum der digitale Code das utopisch-libertäre Versprechen mit sich führt, ohne staatlich abgesichertes Recht auszukommen.

Zu den Geschäftspraktiken der Digitalkonzerne hat Pistor aber kaum etwas zu sagen - und das gilt leider auch für jene Plattformunternehmen wie Facebook und Twitter, die fremden Content publizieren, im gleichen Zuge kapitalisieren und doch keine Haftung für ihn übernehmen müssen. Diese Auslassung ist umso bedauerlicher, als darin auch eine Wirkungsbedingung gegenwärtiger Kapitalmuskritik aufzufinden ist.

Vom Gemeingut in Zeiten der Finanzkrise ist sie wieder Content für eine bestimmte Filterblase geworden, deren Mitglieder sich ab und an zum Kauf eines einschlägigen Buches verleiten lassen. Selbst wenn Kapitalismuskritik weiterhin als Ausdruck linken Selbstbewusstseins gilt, so ist diese Filterblase ihrer historischen Genese nach aber doch vor allem das bildungsbereite Bürgertum - und zu seinem Erschaudern wurde der Begriff des Kapitalismus von deutschen Nationalökonomen Max Weber und Werner Sombart auch überhaupt erst popularisiert.

Das Buch kann auch für kommende Krisen wappnen

Katharina Pistor wendet sich sicherlich an das gleiche Publikum. Statt Klassenkämpfe sieht sie nur Rechtsstreitigkeiten. Und die Gegenstrategien, die sie für die Reform des Rechts und der juristischen Ausbildung vorschlägt, bekennen sich offen dazu, das Spiel nicht zu verändern. Mitunter erschöpfen sie sich sogar in bloßen Hoffnungen auf Wandel in den USA und Großbritannien.

Dennoch kann Pistors Buch gerade jetzt mehr leisten als eine aufklärerische Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Ungleichheit nimmt wieder zu, der Staat muss sogar unumwunden Einkommenschancen verteilen, während eine Welle von Insolvenzen anrollt.

In der neuesten Krisenlage kann das Buch daher auch als vorbereitende Lektüre fungieren. Für alle, die nicht auf den Erhalt alter Besitzstände hoffen, sondern sich auf die Öffnung neuer Möglichkeiten vorbereiten wollen, wenn an den Staat noch wesentlich weitreichendere Forderungen gestellt und andere Eigentumsformen gebildet werden müssen.

Katharina Pistor: Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 440 Seiten, 32 Euro.

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