"Kanzlerdämmerung" von Martin Rupps:"Angela Merkel wird keine Frau nachfolgen lassen"

Wahlkampf CDU - Merkel

Angela Merkel, die verspätete Kanzlerin, die schon viel zu lange bleibt. Und die als Machiavellistin für lange Zeit die einzige Frau im Bundeskanzleramt bleiben wolle, prognostiziert der Politologe Martin Rupps.

(Foto: dpa)

Von Adenauer bis Merkel haben alle deutschen Kanzler ihre Kanzlerschaft verspätet angetreten, sagt der Politologe Martin Rupps. Und sind dann viel zu lang geblieben. Das sei verhängnisvoll.

Interview von Paul Katzenberger

Während sich Frankreich mit dem 39-jährigen Präsidenten Emmanuel Macron gerade neu zu erfinden versucht, steht Deutschland kurz vor der vierten Amtszeit der 63-jährigen Kanzlerin Angela Merkel. Der Politikwissenschaftler Martin Rupps erkennt darin ein Muster der bundesdeutschen Politik der Nachkriegszeit. In seinem neuen Buch "Kanzlerdämmerung" vertritt er die These, dass alle Amtsinhaber von Konrad Adenauer bis Angela Merkel bereits am Abend ihrer Wahl geistig-politische Auslaufmodelle gewesen seien, die schon lange nicht mehr dem Zeitgeist der Gesellschaft insgesamt entsprachen. Im Gespräch mit der SZ erläutert er, warum er das für eine schwere Beeinträchtigung der politischen Kultur hierzulande hält.

SZ: Sie schreiben, junge Politiker repräsentieren eine Gesellschaft besser als ältere. Außerdem erfordere die Dynamik vieler Themen junge Entscheider. Aber ältere Politiker können doch dafür auf mehr Erfahrung zurückgreifen. Was spricht gegen sie?

Martin Rupps: Für mich spricht vor allem etwas gegen die "Berliner Trutzburg", deren politisches Personal über Jahrzehnte dasselbe bleibt. Diese Kernmannschaft trifft über lange Zeiträume hinweg alle wichtigen Entscheidungen und verhindert das Nachrücken von Nachwuchs-Politikern in höhere Ämter. Junge würden aber für eine gesündere Altersstruktur des politischen Apparates in der Hauptstadt sorgen.

Aber wenn in dieser Trutzburg in der Vergangenheit doch mal einer in jungen Jahren eine steile Karriere hingelegt hat, dann ist er am Schluss oft eher eine Bürde für die betroffene Partei gewesen.

Sie sprechen von Karl-Theodor zu Guttenberg?

Ich könnte auch Jörg Asmussen nennen. Der wurde mit 41 Jahren Staatssekretär im Finanzministerium. Inzwischen ist seine politische Karriere beendet - wohl auch wegen Selbstüberschätzung. Ein junger Politiker, der kometenhaft aufsteigt, erliegt der Hybris womöglich eher als einer, der erst im höheren Lebensalter in ein Spitzenamt kommt.

Das kann natürlich passieren, muss es aber nicht. Ich würde auch niemals sagen, dass junge Politiker automatisch gut sind und keine Fehler machen. Guttenberg hätte seine Plagiatskrise professioneller gemanagt, wenn er nicht in kurzer Zeit in höchste Ämter gelangt wäre. Er hatte keine Erfahrung mit einem Schlag zu Boden.

Wenn man sich Spitzenpolitiker ansieht, die in westlichen Demokratien sehr jung ins Amt gekommen sind, scheint mir da insgesamt mehr Schatten als Licht zu sein. Uneingeschränkt positiv wird eigentlich nur John F. Kennedy bewertet. Der gilt in der Geschichte der USA heute als großer Präsident, trotz seiner kurzen Amtszeit.

Ich würde sagen: gerade wegen seiner kurzen Amtszeit. Kennedy war schwer krank und hätte seine Präsidentschaft deswegen wahrscheinlich auch ohne das Attentat von Dallas nicht sehr lange ausüben können. Ich bezweifle, dass er die heutige historische Bedeutung hätte, wenn er durch natürlichen Tod, Krankheit oder Auslaufen seiner Amtszeit abgetreten wäre. Wie James Dean ist er durch sein jähes Ende zum Mythos geworden. Aber mir fallen schon noch andere positive Beispiele für jüngere Politiker ein.

Welche denn? Als jung galt auch David Cameron, der aber durch den von ihm maßgeblich verschuldeten Brexit seinem Land schweren Schaden zugefügt haben dürfte. Selbst von dem jungen Präsidenten Barack Obama wird vermutlich wenig bleiben.

Tony Blair zum Beispiel hat die Politik Großbritanniens über einen langen Zeitraum geprägt und dabei ein Bild in der Öffentlichkeit abgegeben, das sich positiv von seinem Vorgänger John Major abhob. Er hat sicher dazu beigetragen, dass jüngere Briten wieder begannen, sich mehr für Politik zu interessieren. Auch Matteo Renzi war für die italienische Politik ein Gewinn. Und Sebastian Kurz geht in Österreich sehr konsequent seinen Weg, ebenso wie Emmanuel Macron in Frankreich.

Sie schreiben, die Bundesrepublik sei eine verspätete Nation, mit Regierungen, die immer zu spät kommen. Ist das überhaupt so schlimm? Immerhin gilt Deutschland inzwischen als eines der reformfähigsten Länder Europas.

Deutschland ist zu Reformen in der Lage, aber diese kommen immer zu spät.

Der Abbau des Sozialstaats durch die Agenda 2010 kam immerhin mehr als ein Jahrzehnt früher als entsprechende Maßnahmen in Frankreich - wenn sie dort überhaupt kommen.

Die Bundesrepublik war mit der Agenda 2010 damals bereits mindestens fünf Jahre zu spät dran. Und dass sich Frankreich mit Reformen schwertut, hat ganz eigene Gründe. Es ist immer schwer, verschiedene Länder miteinander zu vergleichen, denn überall gibt es besondere lokale Bedingungen. Deswegen würde ich lieber bei Deutschland bleiben, wo sich das Zuspätkommen wie ein roter Faden durch die Nachkriegszeit zieht: Wir haben bei der Ostpolitik ein paar Jahre verloren, weil der CDU-Staat bis zum Ende der Sechzigerjahre angedauert hat, wir sind die Reform der leeren Staatskassen in den Siebzigerjahren zu spät angegangen, weil Willy Brandt als SPD-Kanzler dafür nicht angetreten war. Dass Kohl fünf bis acht Jahre Reformstau verantwortet, steht heute auch nicht mehr in Frage.

Gibt es solche Beharrungskräfte, die Sie anfangs mit dem Schlagwort "Trutzburg Berlin" umschrieben haben, nicht überall? In Frankreich ist der politische Betrieb geprägt von Absolventen der Elite-Uni Ena, die lauter stromlinienförmige Technokraten ausspuckt. In den USA sind Lobbyisten noch einflussreicher als bei uns.

Natürlich existieren Beharrungskräfte länderübergreifend. Die USA haben zwar nicht das Problem wie wir, dass ihr Präsident 16 Jahre lang regieren kann. Dafür gibt es dort andere Schwierigkeiten. Das Zurückdrängen von Beharrungskräften gelingt nur durch einen Systemwechsel, und der müsste sich an den jeweiligen Verhältnissen in einem Land orientieren.

"Die Generation Schröder hatte keinen Plan"

Sie haben dazu einige konkrete Vorschläge gemacht ...

Zum Beispiel sollte ein Bundeskanzler nach spätestens zwei Amtszeiten abtreten. Für den Bundespräsidenten reichen fünf Jahre im Amt. Denn wenn ich mir die zweiten Amtszeiten von Bundespräsidenten ansehe, ist da nicht mehr viel an Initiative gekommen, also sollte eine andere oder ein anderer ran! Und ich würde dafür votieren, dass ein Abgeordneter wie Wolfgang Schäuble dem Parlament nicht so lange angehören kann. Warum muss der Finanzminister 45 Jahre lang ein Bundestagsmandat in einem Wahlkreis wahrnehmen? Er hat sowieso keine Zeit dafür. Also kann man sagen: Nach vier Wahlperioden hört da jemand spätestens auf. Er würde natürlich versorgt und könnte auch Minister bleiben, wenn er ins Kabinett berufen wurde.

Gerhard Schröder war sogar nach weniger als zwei vollen Legislaturperioden weg. Dann kam schon Angela Merkel, die Ihrer Meinung nach aber ebenfalls eine verspätete Kanzlerin ist.

Natürlich müsste der Systemwechsel umfassender sein, als nur Amtszeiten zu begrenzen. Wir haben in der Bundesrepublik auf vielen Feldern keine Gewaltenteilung mehr. Wir brauchen eine Art Ethikrat, der einem doppelt bezahlten Verbandsfunktionär die Meinung sagt. Meine Idee ist, dass wir zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik (im Jahr 2019; Anm. d. Red.) einen Expertenrat berufen, der 2020 eine Agenda 2030 formuliert. Bis dahin hat die Republik hoffentlich an politischer Beweglichkeit zurückgewonnen.

Wie alle Regierungschefs halten Sie auch Gerhard Schröder für einen verspäteten Kanzler. Beleg dafür ist aus Ihrer Sicht das Lambsdorff-Papier von 1982 - benannt nach dem damaligen FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Diese neoliberale Streitschrift bildete 16 Jahre später zumindest zum Teil die Basis des rot-grünen Koalitionsvertrags. Aber war das nicht einfach nur dem Zeitgeist geschuldet? Vom damaligen Hype für die Börse und den freien Markt hätten sich 1998 Jüngere als Schröder und Joschka Fischer von den Grünen wahrscheinlich sogar noch mehr anstecken lassen.

Das Problem war aus meiner Sicht nicht der Zeitgeist, sondern der Umstand, dass die Generation Schröder keinen Plan hatte. Nach zwei Fehlversuchen mit Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine, an die Macht zu kommen, wollte diese Generation auch um den Preis, dass sie diesem Land nichts mehr zu geben hatte, ganz nach oben. Schröder und die Seinen hatten so lange um die Macht gekämpft, dass es ihnen am Ende auch nur noch um die Macht ging. Das, wofür sie gekämpft hatten, war ja großteils schon gesellschaftliche Realität: Die Gleichstellungsbeauftragte, die Datenschutzbeauftragte und andere Berufe waren schon erfunden!

Aber in Ihrem Buch loben Sie doch, dass Rot-Grün Sitten und Gesetze auf dieselbe Höhe gehoben hat. Homosexuelle durften Lebenspartnerschaften eintragen lassen, der Verbraucherschutz wurde rechtlich gestärkt.

Aber der Rest war Fassade: Schröder ist stilbildend im Kaschmirmantel aufgetreten, aber etwas programmatisch Neues hatte er nicht zu bieten. Deswegen bestand das Regierungsprogramm 1998 aus lauter Schablonen, die man sich irgendwo her geholt hat. Da hieß es dann zum Beispiel, wir machen mal den "Dritten Weg". Bodo Hombach (SPD-Politiker und Kanzleramtsminister unter Schröder; Anm. d. Red.) verantwortete das Schröder-Blair-Papier. Aber als es in der Presse nicht gefeiert wurde, verschwand es rasch wieder aus den Redeentwürfen.

Auch wenn Schröder verspätet Kanzler wurde - widerspricht die Länge und der Verlauf seiner Amtszeit nicht Ihrer These? Die besagt ja, dass die Kanzler immer am Anfang ihrer Regentschaft die Initiative ergreifen und am Schluss nur noch dahindämmern. Schröder hingegen brachte zunächst wenig zustande, wie Sie überzeugend darlegen, aber nach seiner Wiederwahl setzte er mit der Agenda 2010 das größte politische Projekt seit der Wiedervereinigung durch.

Bei Schröder läuft das Drehbuch tatsächlich etwas anders ab. Es gibt außer ihm keinen Kanzler, der nach den ersten vier Jahren fast die Macht verloren hätte. Kohl wurde bei seiner ersten Wiederwahl 1987 deutlich bestätigt, ebenso Frau Merkel 2009. Doch Schröders Wiedereinzug ins Kanzleramt war 2002 ernsthaft gefährdet. Er und seine Regierung waren so negativ wahrgenommen worden, dass es sogar ein Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat fast ins Ziel geschafft hätte. Nachdem Schröder dann doch knapp wiedergewählt war, stand er vor der Wahl zwischen blind oder taub.

Dabei trat er als "Basta!"-Kanzler doch recht markig auf.

Er wusste, wenn er in der zweiten Legislaturperiode wieder nichts täte, würde er krachend abgewählt und vor der Geschichte als Versager dastehen. Zugleich wusste er: Bei dem, was ich tun muss, werden mir die eigenen Leute in den Rücken fallen. Er hat sich dann für die zweite Alternative entschieden und damit seine historische Größe ermöglicht. Schröder ist ja analytisch sehr stark, insofern hatte er sich das genauso überlegt.

In Frau Merkel scheint sich Ihre Theorie auch in Bezug auf die Amtsdauer zu bestätigen: Als typisches Gewächs des "Bonner Raumschiffs" ist sie Ihrer Meinung nach 2005 ebenfalls zu spät ins Amt gekommen. Und: Sie wird am 24. September vermutlich wieder gewählt, ist also ein typischer Fall von "Kanzlerdämmerung". Haben wir danach die Chance auf einen zeitgemäßen Kanzler?

Ich fürchte nein. Allein das TV-Duell hat doch ein bedrückendes Bild unserer politischen Kultur gezeichnet. Da lässt eine Kanzlerin ohnehin nur ein TV-Duell zu, und das handelt dann von der Vergangenheit, nicht von der Zukunft. Da fehlte mir inhaltlich der perspektivische Blick und im Stil der Humor und die Individualität, die ein jüngerer Akteur verkörpern könnte. Einem Robert Habeck (Grüne; Anm. d. Red.) oder einer Julia Klöckner (CDU; Anm. d. Red.) würde ich eine solche Dynamik zutrauen.

Julia Klöckner ist immerhin ein aufsteigender Stern in der Union. Dass sie 2021 die Kanzlerkandidatin der Partei stellen wird, ist wohl nicht ausgeschlossen. Sie wäre dann 48.

Ich tippe auf Karl-Theodor zu Guttenberg. Die Machiavellistin Angela Merkel wird keine Frau nachfolgen lassen, an der ihr eigenes Tun und ihr eigener Auftritt gemessen würde. Sie will für lange Zeit die einzige Frau im Bundeskanzleramt bleiben. Ich rechne damit, dass die Bundeskanzlerin dem Bundesminister zu Guttenberg zur Mitte der Wahlperiode den Stab übergibt.

"Kanzlerdämmerung" von Martin Rupps: Martin Rupps, Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist gilt als guter Kenner von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Jetzt hat er ein Buch mit einer These zu allen Kanzlern der Bundesrepublik seit ihrer Gründung vorgelegt.

Martin Rupps, Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist gilt als guter Kenner von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Jetzt hat er ein Buch mit einer These zu allen Kanzlern der Bundesrepublik seit ihrer Gründung vorgelegt.

(Foto: Orell Füssli Verlag)
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