Süddeutsche Zeitung

Kant-Lexikon:Viele Berge beisammen nennt man ein Gebirge

Von A wie "Abderitismus" bis Z wie "Zynismus" - alle Stichwörter im Werk des Philosophen in drei Bänden.

Von Volker Breidecker

Immanuel Kant (1724-1804) war ein Meister des Wortes und der lexikalischen Begriffsbestimmungen: "Ruhe" zum Beispiel definiert er als "eine Bewegung mit unendlich kleiner Geschwindigkeit"; der "Wind" ist "dasjenige in Ansehung der Luft, was ein Strom in Ansehung des Meeres" ist; und von der "Witterung" heißt es, sie enthalte "zwei Stücke: Wind und Wasser". Über die Welt in Kategorien physischer Räume schreibt er: "Die Länder sind entweder bewohnt oder nicht. Ist letzteres, so heißen sie Wüsten."

Der Königsberger Philosoph war eben nicht nur der Verfasser der drei "Kritiken", sondern auch ein Enzyklopäde, dem kein Phänomen zu gering oder zu unbedeutend erschien, um es zu betrachten. Davon zeugen vor allem Kants vorkritische Schriften wie die "Reflexionen zur physischen Geographie", die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels", die "Neue(n) Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde", oder die Schrift "Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raum". Schon seine Zeitgenossen bemerkten, dass Kant der Philosophie neue Töne und eine neue Terminologie beibrachte. Sie bedürfe - wie Kant selbst über die Grundlegung der kritischen Philosophie bemerkte - "ganz eigener technischer Ausdrücke". Und so entstanden neue Wörter und Begriffe, wie zum Beispiel "Hostilität" und "Hospitalität", "Völkerbund" und "Weltrepublik", "Weltbürgerrecht" und Wirthbarkeit". Obendrein verlieh Kant vielen alltäglich geläufigen Begriffen einen anderen, neuen Sinn.

Infolgedessen entstand bereits zu Lebzeiten des Philosophen eine ausgeprägte Kantphilologie. Ein erstes "Wörterbuch zur Kritik der reinen Vernunft und zu den philosophischen Schriften von Herrn Kant" erschien 1788, ein "Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie" 1797, dem sich im Jahr darauf, von der Hand desselben Verfassers, ein Werk unter einem bezeichnenden Titel anschloss: "Kunstsprache der kritischen Philosophie oder Sammlung aller Kunstwörter derselben, mit Kants eigenen Erklärungen, Beyspielen und Erläuterungen, aus allen seinen Schriften gesammelt und alphabetisch geordnet" von George Samuel Albert Mellin.

Dieses Wörterbuch ist ein Gemeinschaftswerk von schier erschlagenden Ausmaßen

Wie stark in der Kantphilologie und in der nach Karl Rosenkranz als ein "besonderer Zweig" früh etablierten "Kant-Lexifikation" Philosophie-, Wissenschafts- und Ideengeschichte zusammengingen, wird deutlich in jenem großen, bis heute gebräuchlichen "Kant-Lexikon" aus der Feder des Wiener Philosophen Rudolf Eisler (1873-1926). Es war das einsame, bereits 1916 fertiggestellte, doch erst postum 1930 erschienene Werk eines akademischen Außenseiters, dem aufgrund seiner jüdischen Herkunft die akademische Anstellung verweigert worden war. Dem lexikografischen Impetus dieses heute vergessenen Gelehrten - eines Nachfahren des Rabbi Löw - entsprang bereits das erstmals 1899 erschienene, mehrbändige "Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke", des direkten Vorläufers von Joachim Ritters Großprojekt eines "Historischen Wörterbuchs der Philosophie".

Aber auch dies ist eine Kant'sche Definition, und beinahe möchte man den heutigen Stand der Kant-Lexikografie auf sie beziehen: "Wenn viele Berge beisammen finden, nennt man sie ein Gebirge." Denn das neue "Kant-Lexikon" ist als Gemeinschaftswerk von 221 Autoren aus 23 Länder, nach 15 Jahren Vorbereitungszeit unter dem Dach der Universitäten Frankfurt am Main, Halle und Bremen auf 2800 zweispaltig gesetzten Druckseiten in drei schweren Bänden, herausgegeben von den Kant-Forschern Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin, erschienen (3 Bände, 2880 Seiten. Verlag de Gruyter, Berlin 2015. Subskriptionspreis bis 31. Dezember: 249 Euro, danach 349 Euro). Fast zweieinhalbtausend Artikel, nach ausschließlich von Kant selbst gewählten Themen und Termini, einschließlich den unter ihren Titeln einzeln vorgestellten Schriften sowie Personen, mit denen Kant persönlich oder brieflich verkehrte, sind zwischen den Stichworten "Abderitismus" und "Zynismus" in diesem massiven Textgebirge versammelt.

Im Unterschied zum Vorgänger - auch "der Eisler" füllt immerhin rund 650 großformatige, eng bedruckte Seiten - kompiliert das neue Lexikon nicht nur Zitate und Fundstellen, sondern kommentiert jeden Eintrag im Licht des gegenwärtigen Stands der Forschung, ergänzt um die wichtigsten Literaturangaben. Man taucht gern in die Lektüre ein und staunt über das breite Spektrum von Kants Kosmos, das kein Wissensgebiet auslässt, weder Physik noch Chemie, weder Geografie noch Astronomie, auch nicht die Musik und schon gar nicht die Meteorologie. Kaum ein menschliches Gefühl, kaum eine Erfahrung oder ein Phänomen aus Alltag und Lebenswelt, aus Wissenschaft und Politik, aus Bildung und Kultur bleibt ausgespart. Unter den Stichwörtern fehlen weder "Galanterie" noch "Gartenkunst", weder "Indianer" noch "Intellektuelle", nicht das "Lachen" und auch nicht die "Langeweile", nicht der "Traum" und ebenso wenig die "Traurigkeit", weder "Witz" noch "Wollust".

Von A wie "Abderitismus" bis Z wie "Zynismus" bleibt hier keine Frage offen

Ein Problem bleibt allerdings auch im neuen Lexikon das alte: Zitiert wird nach der großen Akademieausgabe, was es den Lesern schwer macht, die jeweiligen Stellen in den gebräuchlichen Leseausgaben zu finden. Allerdings hat auch dies sein kantianisch Gutes, kann doch kein Kant-Lexikon die Lektüre der Werke des Philosophen selbst unter Gebrauch des eigenen Verstandes ersetzen.

Als Philosoph der Stunde ist Kant in den Artikeln "Hospitalität" und "Weltbürgerrecht" zu entdecken. Der kluge Kommentar unterstreicht, dass es sich beim Weltbürgerrecht um ein unveräußerliches Naturrecht des Menschen handle. Es ist dadurch begründet, dass die Erde allen Menschen gehört, welche sich ursprünglich den Boden als gemeinschaftlichen Besitz miteinander geteilt hatten. Das Weltbürgerrecht umschließt ein, wie Kant es nennt, "Besuchsrecht" als einklagbares "Recht auf den Versuch, mit Fremden in Kontakt zu treten, ohne von diesen feindselig behandelt zu werden". Abgewiesen werden darf der Fremde nur unter der einzigen Bedingung, dass dies - so Kant wörtlich - "ohne seinen Untergang geschehen kann".

Kants Argumentation wird exemplarisch kommentiert "mit Blick auf Schiffbrüchige, die abzuweisen bedeuten würde, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu nehmen, sich auf einem Ort der Erde aufzuhalten". Schließlich resümiert der Verfasser des Artikels: "Das Weltbürgerrecht ist für Kant eng mit der Beobachtung verbunden, dass im Laufe der Zeit eine globale Öffentlichkeit entstanden ist, aufgrund derer die Rechtsverletzung 'an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird'". Und von allen, wie aus aktuellem Anlass hinzugefügt werden sollte.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2015
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