Süddeutsche Zeitung

Kandidat für Literaturnobelpreis Thiong'o:Sprache der Schmach

An diesem Donnerstag soll die Entscheidung für den Literaturnobelpreis 2012 fallen. Der Kenianer Ngugi wa Thiong'o wird von den Buchmachern seit Jahren als einer der heißesten Kandidaten gehandelt. Er schreibt seine Romane in seiner Muttersprache Gikuyu - warum?

Tim Neshitov

Einer der aussichtsreichsten Kandidaten für den Literaturnobelpreis heißt auch in diesem Jahr Ngugi wa Thiong'o. Den Kenianer sollte man nicht nur wegen seines Erzählwerks kennen - zuletzt erschien auf Deutsch "Herr der Krähen", eine geistreiche Parabel auf Afrikas Despoten und deren Verhältnis zum Westen. Thiong'o, 74, ist der einzige schwarzafrikanische Schriftsteller, der es zu Weltruhm gebracht hat, obwohl er in seiner Muttersprache schreibt, auf Gikuyu. Der Nigerianer Wole Soyinka, der erste schwarzafrikanische Nobelpreisträger (1986), schreibt auf Englisch. Das tut auch Nigerias anderer berühmter Autor, Chinua Achebe.

Vor zwei Jahren setzte Ladbrokes, der größte Buchmacher der Welt, Ngugi wa Thiong'o auf Platz eins seiner Nobel-Favoritenliste - vor Haruki Murakami und Tomas Tranströmer. Auch in diesem Jahr steht Thiong'o ganz oben auf dieser Liste, zwischen Bob Dylan und Thomas Pynchon, obwohl die Londoner Buchmacher sich diesmal seinen Namen falsch notiert haben: "Thiog'o".

Ob er den Preis bekommt oder nicht (die Entscheidung wird an diesem Donnerstag erwartet), seine Präsenz bei den Buchmachern dürfte Ngugi wa Thiong'o recht sein. Denn sie zwingt auch die Menschen, die seine Texte nie lesen werden, über sein Lebenswerk nachzudenken. Warum schreibt jemand, der im Exil an der University of California Englisch unterrichtet, seine Romane und Memoiren auf Gikuyu? Wie viele Menschen sprechen Gikuyu? Wer gibt sich die Mühe, Thiong'os Werke zu übersetzen?

1962 besuchte Ngugi wa Thiong'o, damals Literaturstudent, ein Symposium afrikanischer Autoren an der Makerere-Universität in Uganda. Er hoffte, zwischen den Vorträgen Chinua Achebe zu treffen, den Star der afrikanischen Literatur, dessen Debütroman "Things fall apart" über die Übel des Kolonialismus gleich zum Klassiker geworden war. Auch Thiong'o versuchte sich im Romanschreiben, damals noch auf Englisch, und wollte Achebe aus seinen Manuskripten vorlesen. Rückblickend markierte die Konferenz für Thiong'o eine persönliche Lebenswende und für Afrikas Literatur den Beginn einer bis heute andauernden Diskussion über Fluch und Segen der Kolonialsprachen.

Mittel der Unterjochung

In seinem Essay "Decolonizing the mind" von 1986 schreibt Thiong'o über die "absurde Anomalität", dass er, ein Student, auf die Konferenz von Makerere eingeladen wurde, während Shabaan Robert, "damals der größte lebende Dichter Ostafrikas", und Chief Fagunwa, ein wichtiger nigerianischer Autor, zu Hause bleiben mussten. Der Grund: Robert schrieb auf Swahili, Fagunwa auf Yoruba.

Sprache, in diesem Fall Englisch, sei eines der wichtigsten Mittel, kolonisierte Völker "zu faszinieren und deren Seelen gefangen zu halten", schreibt Thiong'o. "Die Kugel war das Mittel der physischen Unterjochung. Sprache war das Mittel der geistigen Unterjochung." In der Schule, auf die Thiong'o ging, war es verboten, Gikuyu zu sprechen, wer dabei erwischt wurde, bekam drei bis fünf Stockschläge auf den nackten Hintern oder ein Schild um den Hals gehängt: "I am a donkey."

Mitte der Siebzigerjahre legte Thiong'o seinen christlichen Namen ab und hörte auf, auf Englisch zu schreiben. Jeder afrikanische Schriftsteller habe die Wahl zwischen einem kleinen Buchmarkt, den man in seiner Muttersprache erobern kann, und dem potenziellen Weltruhm, den man sich auf Englisch oder Französisch erschreiben kann. Thiong'o hat sich für Gikuyu entschieden, eine Sprache von acht Millionen Menschen, die einst die entscheidende Rolle im antikolonialen Krieg gegen Großbritannien gespielt hatten. Nur so könne man die "linguistische Belagerung Afrikas" überwinden. Das Vorbild seiner Jugend, Chinua Achebe, vertritt eine andere Meinung. Er hält zwar Englisch für "eine Weltsprache, welche die Geschichte uns in den Rachen geschoben hat". Aber der Nutzen dieser Sprache - der linguistische Reichtum und das Weltpublikum - überwiegen für Achebe die negativen Folgen.

Um dieses Weltpublikum kommt auch Ngugi wa Thiong'o nicht herum. Er übersetzt seine Werke eigenhändig ins Englische. Damit die Welt von seinem Kampf überhaupt erfährt.

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SZ vom 08.10.2012/ihe
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