Süddeutsche Zeitung

Kamera & Kommunismus:Wo steht der Fotograf?

Der opulente Bildband "Life in a Sea of Red" zeigt Aufnahmen, die der Pressefotograf Liu Heung Shing seit 1976 im kommunistischen China und in der Sowjetunion machte.

Von Sonja Zekri

Ein besonderes Rätsel bei vielen Fotografien ist die Rolle des Fotografen. Wie hat er sich den Menschen genähert? Hat er sie umworben? Überrumpelt? Gedrängt, sich natürlich zu geben, oder ihre verkrampften Posen gezeigt, darauf vertrauend, dass Gestelltes besonders entlarvend wirkt? Wo war sein Standpunkt, was seine Methode?

Bei den Bildern von Liu Heung Shing stellt sich diese Frage nicht, weil er sich als Fotograf praktisch zum Verschwinden bringt. Selbst auf Bildern, auf denen die Menschen direkt in die Kamera schauen, ist er als Fotograf nirgends spürbar, sondern körperlos, fast drohnenhaft entrückt. Die Fotografierten sehen so versunken und selbstvergessen aus, so sehr mit sich und ihrem Dasein beschäftigt, dass man ihnen eine Warnung zurufen möchte, damit sie sich dem Auge der Kamera nicht so bedenkenlos ausliefern. Liu Heung Shing fotografiert, als habe jemand dem Leben die Haut abgezogen.

Und in gewisser Hinsicht war das auch so, oder wie will man diese Jahre sonst nennen, als China und die Sowjetunion, die beiden kommunistischen Riesenreiche, ins Taumeln gerieten, das eine nach dem Tode Maos, das andere durch die Konvulsionen nach dem Afghanistan-Einmarsch, nach Perestroika und Glasnost? Der gewaltige Bildband "A Life in a Sea of Red" zeigt Bilder, die Liu Heung Shing damals als Fotojournalist für die Agentur AP aufnahm, und man kann sich in ihnen verlieren wie in einem lange verschlossenen Raum, dessen Tür sich endlich öffnet.

Liu erwischte den winzigen Augenblick, in dem die Sowjetunion implodierte

Kein anderer als Liu hätte den Schlüssel gehabt. Geboren in Hongkong, aufgewachsen im maoistischen China als verachteter Sohn von Grundbesitzern, ausgebildet in New York, besaß Liu das Wissen aus zwei Welten. Als er 1976 nach China kam, war er der Idealfall eines Außenseiters, der eigentlich ein Insider ist. Nur er, der die Knebelung selbst erfahren hatte, erkannte die verstohlenen Gesten der Erleichterung, las die Anspannung in den Gesichtern von Maos Nachfolgern. Er begriff die stille Sensation in den Zeichen der neuen Zeit, den dunklen Sonnenbrillen der Jungs, der Ankunft erster amerikanischer Staatsgäste, dem Schwung eines Rollschuhfahrers unter dem Monument des Großen Vorsitzenden. Der Junge umrundet den mächtigen Sockel auf einem Bein, die Arme ausgebreitet, als flöge er an den Schrecken der Vergangenheit einfach vorbei.

Viele von Lius Bildern schrieben Fotogeschichte, wie auch jene Aufnahme nach dem Sturm auf den Platz des Himmlischen Friedens (unsere Abb.) : Oben auf der Brücke rollt ein Panzer mit zwei Soldaten darin, unter der Brücke verbirgt sich ein Paar auf einem Fahrrad, vier Leben, zwei Geschichten, eine Tragödie. Das Bild war damals auf den Titeln aller Zeitungen der Welt. Und man wird ein wenig nostalgisch, weil man sich kaum noch ein Bild vorstellen kann, das im digitalen Bildersturm dieser Tage diese Wirkung entfalten könnte.

So erinnert "Life in a Sea of Red" auch an jene fruchtbare Zeit, als die Kameras tragbar und vielseitiger einsetzbar wurden, aber das Handy noch nicht erfunden war. Als Liu im Dezember 1991 Michail Gorbatschow fotografierte, als dieser vom Posten des Generalsekretärs der Sowjetunion zurücktrat, stieß er an die Grenzen der Technik: Um den winzigen Augenblick zu erwischen, in dem Gorbatschow die Rücktrittsurkunde zuklappte, wählte Liu eine Belichtung, die auch zu einem unbrauchbaren Bild hätte führen können. Sie tat es nicht, und Liu war das Bild von der Implosion der Sowjetunion gelungen. Selten sah das Ende eines Imperiums so friedlich, so menschlich aus wie hier.

A Life in a Sea of Red: Photojournalism by Liu Heung Shing. Steidl Verlag, Göttingen 2019. 288 Seiten, 195 Abbildungen 85 Euro.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2019
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