Kafkaesk:Schule und Strafkolonie

Eine Mutter nimmt Rache im Roman "Geständnisse" von Kanae Minato, sie ist Lehrerin, zwei Schüler haben ihr Kind umgebracht. Gnadenlose Rache, gnadenlos erzählt, eine Konstruktion, die kafkaesk wirkt und ganz und gar japanisch ist.

Von Reinhard J. Brembeck

Kanae MinatoGeständnisse

Kanae Minato: Geständnisse. Nach der englischen Fassung übersetzt von Sabine Lohmann. Verlag C. Bertelsmann, München 2017. 270 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 13,99 Euro

Hikikomori. Das für Westlerohren verspielt dahinratternde Wort meint bei weitem kein so harmloses Phänomen wie einst den Tamagochi, sondern einen sich der Gesellschaft verweigernden Jugendlichen. Die Hikikomori sind in den letzten Jahren zu einem Massenphänomen in Japan geworden, zum Stresstest für Eltern wie Lehrer. Auch Naoki ist ein Hikokomori. Aber nicht aus vertrackt psychologischen Gründen hat sich der Fünfzehnjährige selbst von der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern weil er mit einem Kameraden die vierjährige Tochter seiner Klassenlehrerin ermordet hat.

Diese Lehrerin, Yūko Moriguchi, eine Naturwissenschaftlerin, ist eine Rationalistin der Sonderklasse. Sie beobachtet sich selbst und ihre Umgebung so nüchtern wie eine Entomologin die Insekten, ist so empfindungs- wie gnadenlos. "Rache", erklärt sie Shūya, dem abgefeimteren der beiden Mörder, "ist etwas Subtiles." Sie geht mit ihrem Wissen um den Mord und seine Täter nicht zur Polizei. Denn sie will dezidiert Rache und nicht Gerechtigkeit. Obwohl sie, wie sie Shūya erklärt, weiß, "dass Rache niemals auslöschen würde, was geschehen war, mich niemals davon abhalten würde, Sie abgrundtief, mit meinem ganzen Sein zu hassen".

Und diese Rache trifft die beiden Jungen dann mit archaischer Wucht, sie ist als Auslöschung gedacht und als Lehrstück. So wie in Kafkas "Strafkolonie" dem Delinquenten sein Vergehen so lange in den Körper eingeritzt wird, bis er daran stirbt. Aber Moriguchi mordet nicht, sie zerstört die beiden Jungen nur psychisch, sie hebelt ihre Existenz vollkommen aus. Die beiden sind sehr viel mehr zu beklagen als die zuletzt mindestens vier Mordopfer.

Die 1973 geborene Kanae Minato hat für ihren 2008 erschienen Erstlingsroman - 2010 wurde er von Tetsuya Nakashima auch verfilmt - diese Rachepädagogik in sechs "Geständnisse" gepackt. Zu Beginn und am Ende spricht Moriguchi, dazwischen kommen die Täter, eine Schulfreundin und eine der Mütter zu Wort. Der Tonfall ist lakonisch, Sentimentalitäten und Spektakel fehlen völlig. Stattdessen stellt Minatos schlichte und so gar nicht zu philosophischen Grübeleien neigende Prosa beständig die Frage, wie man zu Beginn dieses neuen Jahrtausends Kinder erziehen soll, zumindest in Japan. Die Frage bleibt unbeantwortet im Raum hängen, das Problem wird als unlösbar zementiert. Minatos Personal lebt die vollkommene Vereinzelung. Nur Mord und Psychosadismus vermögen die Menschen einander näherzubringen. Das Paradies sieht anders aus, in Minatos Welt hat es nie existiert und wird auch nie existieren.

So wie die Pädagogikfrage nur angerissen wird, bleiben auch die Anspielungen auf "Werther", "Schuld und Sühne" oder "Krieg und Frieden" beim Zitat hängen. Es herrscht Krieg auf allen Ebenen, zwischen Schülern und Eltern und Lehrern wie zwischen den einzelnen Schülern. Und es gibt keine Möglichkeit, Frieden zu schließen oder Sühne zu üben. Minatos Welt kennt allein die unerbittlich funktionierenden Naturgesetze, die herzlos wie eine Maschine arbeiten und dabei nur eines kennen: die Vernichtung.

Damit behauptet Minato, dass die heutige durchrationalisierte Welt nicht anders funktioniert als prähistorische Gesellschaften, in denen Rache und Faustrecht gängige Praktiken waren. Diese frühen Gesellschaften haben aber Wege gefunden, dem Kreislauf der Gewalt zu entfliehen. So weit aber, so Minatos Sicht, ist die moderne Welt noch lange nicht. Da herrscht unumschränkt das Faustrecht.

Oder, wie Lehrerin Moriguchi zuletzt zu Shūya sagt: "Komisch - ich glaube, mein Rachedurst ist endlich gestillt. Und mit etwas Glück habe ich Sie zu guter Letzt doch noch auf den Weg der Besserung gebracht."

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