Als das dunkle Stadion mit einem Schlag hell erleuchtet wird und die Zugabe beginnt, werden auch im Münchner Mathäser-Kino Leuchtkugeln gezückt und im Rhythmus geschwungen. Das bunte Lichtermeer scheint von der Leinwand in den Saal herüberzuschwappen. Ausnahmsweise herrscht hier in Saal sechs nicht geborgene Kino-Kuschel-Atmosphäre: Die Nadel der provisorisch installierten Schallmessungs-App tanzt um die 100-Dezibel-Marke herum.
Nicht nur im Multiplex-Kino im Münchner Zentrum werden an diesem Samstagnachmittag synchron Leuchtkugeln geschwungen und Stimmbänder wie Trommelfelle auf eine Zerreißprobe gestellt. In Hunderten Kinos in mehr als 90 Ländern herrscht an diesem Samstag Ausnahmezustand. Der Konzertfilm, der nur einen Tag lang aufgeführt wird, zeigt den Auftakt der Welttournee der südkoreanischen Boyband BTS (kurz für Bangtan Sonyeondan - kugelsichere Pfadfinder), die im August 2018 in Seoul startete und später auch Stopp in Berlin machte.
Obwohl es sich also nicht um eine Live-Übertragung handelt, entsteht doch eine Aura globaler Gleichzeitigkeit für die über die Welt verstreute Fangemeinde, die sich sonst nur online vernetzt.
Im World Wide Web war die Vorfreude groß. Wenige Stunden vor dem Event schrieb eine Nutzerin auf Twitter etwa: "Heute ist es soweit! Das wird das erste Mal, dass ich BTS woanders als auf meinem Computer erleben werde!"
Ein Kino-Event als globaler Siegeszug des K-Pop
Immer wieder erschallt im Kinosaal ein Schlachtruf: "Kim Namjoon, Kim Seokjin, Min Yoongi, Jung Hoseok, Park Jimin, Kim Taehyung, Jeon Jungkook, BTS!" Fast 800 Zuschauer haben sich eingefunden und besingen die Namen der sieben männlichen Bandmitlgieder. Lucia ist mit ihrer vierköpfigen Familie gekommen, die sie nach und nach "infiziert" hat. Wenn sie am Wochenende heimkommt, werde nur BTS gehört, erzählt ihr Vater. Zu Streit scheint das nicht zu führen. Mit ihm war Lucia im Herbst auch beim Konzert in Berlin. Heute will sie "den schönsten Tag ihres Lebens" mit der Filmversion wiederaufleben lassen.
Das weltweite Kino-Event steht stellvertretend für den globalen Siegeszug des K-Pop. Das Musikmagazin "Rolling Stone" sprach schon von einer "Eroberung des Westens". Und die erfolgt vor allem über die sozialen Netzwerke. Zwei Mal hintereinander wurden BTS in den USA zuletzt als Top Social Artist ausgezeichnet, als erfolgreichste Künstler im Netz - vor Superstars wie Justin Bieber und Demi Lovato. Im August 2018 brachen sie mit der Single "Idol" Taylor Swifts Rekord für die meisten Youtube-Klicks binnen der ersten 24 Stunden. Mehr als 45 Millionen Mal wurde das Musikvideo am ersten Tag seiner Veröffentlichung aufgerufen.
"Idol" ist gleich das Lied, mit dem die Band vor den 90 000 in Seoul und den 800 in München loslegt: Reggeaton-Beats, Hip-Hop und ein Refrain mit Mitsing-Oh-Oh-Ohs lässt erahnen, wie viel hier in den musikalischen Mixer geworfen wird - für jeden soll etwas dabei sein. In den koreanischen Liedtext mischen sich zudem einzelne Stellen auf Englisch: "You can call me idol. (...) I don't care" - Du kannst mich ein Idol nennen. (...) Das ist mir egal. Die Jungs kommen mit ihrer Rolle als Pop-Produkte klar.
Idol ist ein zentraler Begriff im System K-Pop. So werden die Allround-Talente genannt, die die südkoreanische Musikindustrie in Castings und Akademien zu Komplettpaketen aus Sänger, Tänzern, Entertainern und nicht zuletzt Schönheitsikonen formt und in einer Vielzahl an Bands arrangiert.
Der Musikethnologe Michael Fuhr forscht am Center for World Music der Universität Hildesheim schon seit einigen Jahren zum Phänomen. Er sieht in ihm vor allem eine erfolgreiche Pop-Formel, die auf einen musikalischen Genre-Mix und mitreißende Tanzeinlagen setzt, und - größer betrachtet - das Produkt einer nationalen Strategie: "K-pop geht über Musik und Tanz hinaus. Es ist nicht nur Ästhetik, sondern vielmehr ein exportorientiertes Wirtschaftsgut", sagt Fuhr. Südkorea wolle sich mit der staatlich subventionierten Musikbranche das Image eines modernen, jungen und weltgewandten Landes aneignen. Da der südkoreanische Markt begrenzt ist, denken die Musikproduzenten laut Fuhr schon beim Design der Bands das globale Potential mit. Was die Royals für UK und Pandabären für China sind, das könnten die K-Pop-Künstler für Korea werden.
Der Erfolg von BTS bildet den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die schon in den 1990er Jahren ihren Anfang nahm, als Südkorea einen Sprung vom Entwicklungsland zur Industrienation machte. Das sie das Zeug zu internationalen Posterboys haben, zeigte ihr Besuch bei den Vereinten Nationen im September. Dort nahmen sie an einer Generalversammlung teil und standen schick im Anzug Pate für eine neue globale Jugendkampagne. Der etwas holprig formulierte Kern ihrer Botschaft lautete: "Speak yourself!" und ist grob mit "Finde deine Stimme" zu übersetzen.
BTS im K-Pop-Zirkus eine "Ausnahmeerscheinung"
Die Münchnerin Lisa-Sophie ist seit einem Dreivierteljahr BTS-Fan und begeistert vom Lebensgefühl, das die Band ausstrahlt. "Sie vertreten eine wunderbare Message. Man möchte ein besserer Mensch werden durch sie", sagt sie kurz bevor sie mit ihren Freunden Elisabeth und Fabian den Konzertfilm schaut.
Doch trotz der Symbolwirkung ist BTS im K-Pop-Zirkus eigentlich eine "sehr, sehr starke Ausnahmeerscheinung", wie Michael Fuhr analysiert. Die Band ging nicht aus einer der ganz großen Plattenfirmen hervor, sondern steht beim vergleichsweise kleinem Musikunternehmen Big Hit Entertainment unter Vertrag. Wo sonst eine strenge künstlerische Arbeitsteilung zwischen Songwriting und Performance gelte, so Fuhr, würden BTS ihre Stücke selbst kontrollieren, eigene Texte schreiben und dabei - sonst unüblich für den K-Pop - auch sozialkritische Themen setzen. So bemängeln sie etwa das südkoreanische Schulsystem oder die politischen Reaktionen auf das Sewol-Fährunglück im Jahr 2014, bei dem Hunderte Menschen ums Leben kamen. Das hat auch mit dem 24-jährigen Rapper RM zu tun, der bürgerlich Kim Namjoon heißt, und oft im Mittelpunkt der Auftritte steht. Er ist verantwortlich dafür, dass sich die Band oftmals an Hip-Hop-Gruppen der Neunzigerjahre bezieht und so aus der Masse der K-Pop-Idols heraussticht.
Doch die größten Kreischanfälle lösen im Kino andere aus: Lucias Vater und Bruder tragen T-Shirts mit der Aufschrift J-Hope auf dem Rücken - der Spitzname eines Bandmitglieds. "Das ist der Name, den man am lautesten schreien kann", witzelt der Vater. Im Kino wird es später immer stets dann am lautesten, wenn die makellosen Idole in Großaufnahme gezeigt werden und verstohlen in die Kamera lächeln, zwinkern, einen Kuss mimen oder gar mal das T-Shirt anheben.
Familiäre BTS-Szene in Deutschland
Auch wenn es heute im vollen Kinosaal einen anderen Eindruck macht, Fuhr zufolge ist die BTS-Fanszene in Deutschland bisher noch nicht zu groß, eher familiär. Die größtenteils weiblichen Fans treffen sich in selbstorganisierten Events, auf denen sie Tanzeinlagen und Lieder der Idole nachahmen. Von der Band wurde die Gefolgschaft martialisch ARMY getauft. Doch Fuhr erklärt: "Als digital vernetzte, kosmopolitische Jugendkultur stehen die Fans für kulturelle Offenheit und Diversität."
Früher sei die südkoreanische Musikszene dafür belächelt worden, US-Originale zu kopieren, sagt Fuhr. Heute biete sie jungen Musikfans eine Alternative zum dominierenden US-Pop. Das große Vorbild von früher spiele jedoch weiterhin eine entscheidende Rolle. Viele der K-Pop-Produzenten sind Fuhr zufolge als ehemalige Tänzer stark vom "King of Pop" Michael Jackson beeinflusst worden und denken vor allem in Gesten und Tanzschritten. Dazu kommt die Orientierung an den US-Charts und extrovertierten Künstlern wie Lady Gaga oder erfolgreichen Genres wie Cloud-Rap, Future Bass oder Electronic Dance Music. Wenn BTS nun wiederum mit US-Größen wie zuletzt der Sängerin Nicki Minaj oder DJs wie Steve Aoki und The Chainsmokers zusammenarbeitet, schließt sich ein Kreis.
Beim Konzert wechseln sich clubtaugliche Tanznummern, die BTS im Kollektiv vorträgt, mit ruhigeren Stücken, die einen emotionaleren Klang anschlagen. Dazu gibt es Pyro-Effekte, Konfettiregen, Seifenblasen und zuletzt auch ein Feuerwerk: die volle Überwältigung. Am Ende verbeugen sich die sieben Jungs artig und zur Verabschiedung stimmt der vollbesetzte Kinosaal noch einmal den Schlachtruf an.