Süddeutsche Zeitung

"Juliet, Naked" im Kino:Als wir träumten

Im Roman "Juliet, Naked" fragt sich Nick Hornby, was aus der High-Fidelity-Generation geworden ist. Der Regisseur Jesse Peretz hat daraus eine Feldstudie über desillusionierte Endvierziger gemacht.

Von David Steinitz

Diese Liebeskomödie heißt zwar "Juliet, Naked", aber bevor jemand aus den falschen Gründen ins Kino rennt, sollte man vielleicht vorausschicken, dass hier niemand nackt zu sehen ist - ja, es kommt nicht einmal eine Frau namens Juliet darin vor.

"Juliet" ist vielmehr der Titel eines Albums des fiktiven Neunzigerjahre-Rockstars Tucker Crowe, der vom Neunzigerjahre-Filmstar Ethan Hawke unter vollem Einsatz seiner Endvierzigerfalten gespielt wird. Und dieser Tucker Crowe ist zu Beginn der Geschichte an drei heftigen Midlife-Krisen schuld.

Zunächst einmal an seiner eigenen, weil er in den zwanzig Jahren seit "Juliet" keine Musik, dafür aber jede Menge Kinder mit unterschiedlichen Müttern produziert hat. Jetzt wohnt er im Schuppen hinter dem Haus seiner aktuellen Exfrau und versucht, es sich zumindest mit seinem jüngsten Sohn nicht zu verscherzen; denn der restliche Nachwuchs hat sich längst vom abgehalfterten Rockerdaddy abgewandt.

Ebenfalls in der Midlife-Crisis steckt sein größter Fan Duncan (Chris O'Dowd). Duncan hat Tucker zwar nie persönlich kennengelernt, hält ihn aber für den besten Musiker aller Zeiten und betreibt im Internet ein Hardcore-Fanforum. In dem tauscht er sich mit anderen mittelalten Männern täglich über seinen Rockgott aus. Ganz aus dem Häuschen gerät er, als plötzlich eine Akustikversion des legendären Albums auftaucht: "Juliet, Naked". Dass Duncan so viel Zeit mit Nerd-Diskussionen im Internet verbringt, hat natürlich sublimierungsstrategische Gründe. Er denkt lieber an seine Jugendzeit zurück als an die blasse Gegenwart, die ihm vor allem Streitgespräche mit seiner Freundin Annie einbringt. Ihr ist sein großes Idol nämlich herzlich egal - und damit wären wir bei Midlife-Crisis Nummer drei.

Denn Annie (Rose Byrne) wäre es sehr recht, wenn ihr Freund mal über etwas anderes reden würde als über seinen Lieblingsrockstar. Zum Beispiel über Kinder. Doch die gemeinsame Wohnung gleicht einer Messie-Höhle, sie ist mit alten Tourplakaten und anderen Tucker-Crowe-Devotionalien vollgestopft. Aber wen zum Teufel interessiert es schon, dass der Typ 1989 mal in Düsseldorf aufgetreten ist?

Die lässige Stimmung der "High Fidelity"-Jahre ist einer großen Depression gewichen

Die Romanvorlage für diesen Film stammt vom britischen Bestsellerautor Nick Hornby, und sie ist zugegebenermaßen ein bisschen arg konstruiert. Denn durch einen Zufall lernt die deprimierte Annie den deprimierten Tucker Crowe kennen und fängt mit ihm eine Affäre an, was wiederum den deprimierten Duncan in noch größere Depressionen stürzt.

Was die Filmemacher aus dieser an den Haaren herbeigezogenen Konstellation machen, ist aber durchaus lustig und berührend. Produziert wurde der Film von Judd Apatow ("Bridesmaids"), dem mächtigsten Paten im Comedy-Kino, der ein fast schon unheimliches Gespür dafür hat, welche Regisseure und Schauspieler man auf welchen Stoff ansetzen muss. Diesmal hat er für die Regie den Amerikaner Jesse Peretz ausgewählt, der unter anderem mehrere Folgen der Serien "Orange ist the New Black" und "Girls" sowie die wunderbare Feelgood-Komödie "Our Idiot Brother" inszeniert hat.

Peretz konzentriert sich vor allem auf jene tragikomischen Momente aus Hornbys Vorlage, die von der enttäuschten Lebensbilanz der Spätausläufer der Generation X erzählen. Also jenen schallplattensammelnden und popkulturzitierenden Menschen, die dachten, dass die Neunzigerjahre niemals enden würden, bevor das echte Leben sie doch noch eingeholt hat.

Ein Dauerthema des Schriftstellers Nick Hornby, der mit dem Plattenverkäufer Rob Gordon in seinem Roman "High Fidelity" einst den Prototyp des unterbeschäftigten Neunziger-Jahre-Helden erfunden hat. Heute beschäftigt ihn, was aus dieser Generation geworden ist. Also nach dem Aufkommen des Internets und der unbezahlbaren Mieten in den Großstädten, dem Niedergang der Plattenindustrie und all den anderen Dingen, welche die kollektive Mixtape-Seligkeit zerstört haben.

Diese Frage des Romans erkundet Peretz in seiner Verfilmung mit dem Interesse eines waschechten Popkultur-Ethnologen. Zunächst einmal pegelt er wie im Roman jegliche Coolness und Aufbruchsstimmung der glorreichen Cool-Britannia-Jahre auf null herunter. Duncan und Annie könnten sich London im Jahr 2018 niemals leisten, deshalb sind sie in der elterlichen Provinz eines englischen Küstenstädtchens hängen geblieben, der sie in ihren Zwanzigern unbedingt entfliehen wollten.

Annie leitet statt einer hippen Galerie in Soho das lokale Heimatmuseum, dessen Prestigeausstellungsobjekt ein eingelegtes Haifischauge ist. Und Duncan ist weder Rockstar noch Schriftsteller geworden, sondern unterrichtet an der Uni den Einfluss der griechischen Tragödie auf "The Wire", wobei seinen jungen Studenten diese TV-Serie auch nicht weniger antiquiert vorkommt als Aristoteles' Dramentheorie.

Dass ausgerechnet in dieser Situation zwischen Resignation und Depression der Musiker Tucker Crowe auftaucht und eine Beziehungskrise heraufbeschwört, indem er sich an Annie ranmacht, entpuppt sich aber als therapeutischer Glücksfall. Denn so werden die beiden mit den Schattenseiten einer Biografie konfrontiert, die in der Theorie zwar cool klingt, in der Praxis aber ebenfalls zum Midlife-Crisis-Blues geführt hat. Duncan ist trockener Alkoholiker, der es mit dem Rockstardasein für ein paar wilde Jahre so sehr übertrieben hat, dass er sich nun beinahe davor ekelt, eine Gitarre anzufassen. Aber wie es sich für eine anständige Feelgood-Komödie mit melancholischem Indiepop-Soundtrack gehört, hat das Leben für alle drei noch einen Neustart parat.

Juliet, Naked, USA/GB 2018 - Regie: Jesse Peretz. Buch: Evgenia Peretz, Jim Taylor, Tamara Jenkins nach dem Roman von Nick Hornby. Kamera: Remi Adefarasin. Mit: Rose Byrne, Chris O'Dowd, Ethan Hawke. Prokino, 97 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2018
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