Julian Nida-Rümelins "Theorie praktischer Vernunft":Ein robuster moralischer Realismus

Julian Nida Rümelin bei der Podiumsdiskussion Digitaler Humanismus Eine Ethik für das Zeitalter der

„Die Beweislast tragen die, die eine These vertreten, die mit lebensweltlichen Überzeugungen schwer in Einklang zu bringen sind.“ – Julian Nida-Rümelin.

(Foto: Christoph Hardt/imago/Future Image)

Der Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin denkt unsere Moral betont alltagspraktisch. Kann er philosophisch überzeugen?

Von Willy Hochkeppel

Nahezu alle Philosophen verhalten sich wieder mal ruhig, sie ducken sich weg, wenn Probleme der Migrationspolitik, der Ethik im Umgang mit den weltweiten Flüchtlingswellen und wenn Korruptionsfälle zu erörtern wären. Es gab in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im sogenannten "Wiener Kreis" einen Verzicht auf jedwede Ethik und Ästhetik, weil man annahm, dass dort gestellte Fragen mit wissenschaftlichen Mitteln nicht erörtert werden könnten, sie seien bloß Ausdruck von Emotionen, von Gefühlen. Dieser Auffassung sind viele Wissenschaftler übrigens heute noch. Es gab also keine Ethik oder Ästhetik in dieser neopositivistischen Philosophie. Man war lediglich bereit, die Sprache moralischer und ästhetischer Urteile zu untersuchen, und nannte das Metaethik.

Was heute unter Metaethik zu verstehen ist, gilt den Grundlagen der Ethik und Moral, deren Subjektivität oder Objektivität, wobei man Ethik als die Theorie zur Moral verstehen kann. Man macht also in der Metaethik keine moralischen Aussagen. Sein Buch, stellt Nida-Rümelin fest, ist kein "Regelbuch". Der Münchner Philosoph verficht vielmehr einen moralischen, "robusten" Realismus, der moralische Werte als objektiv und unabhängig von uns Menschen wieder wahrnimmt. Er beruft sich in diesem Kontext, wie schon in vielen Vorarbeiten und Publikationen, auf die Alltagspraxis der Lebenswelt und Lebensform, die maßgeblich ist.

Um moralische Letztbegründunen geht es ihm nicht

Was er zum Zweck moralischer Tatsachen ins Feld führen kann, ist eine umfassende, "strukturelle", wie er es nennt, aber nicht fundamentalistische Rationalität, also keine sogenannten "Letztbegründungen". Er stützt seine Theorie praktischer, "unaufgeregter" Vernunft, jenseits von ontologischen Konsequenzen, mit zahllosen einleuchtenden Beispielen, etwa dem berühmten Gefangenen-Dilemma aus der Spieltheorie (gestehen beide Gefangenen, erhalten sie eine mindere Strafe, gesteht nur einer, bekommt der andere lebenslang. Da sie in zwei Zellen sitzen, können sie nicht kooperieren. Was tun?), das seitenlang abgehandelt wird aber immer noch schwierig bleibt, obwohl der Autor dem Geschehen fleischliche Präsenz verleiht.

Man kann sich seiner Theorie praktischer Vernunft schon dadurch annähern, dass man aufzählt, was er alles ablehnt: An erster Stelle den Naturalismus oder Physikalismus, der sich überall breit mache, und der versuche, Fächer wie Psychologie auf Biologie und Biologie auf Physik zu reduzieren. Aber physikalisch lässt sich kein psychisches Erleben interpretieren. Das seien noch Reste der alten Idee der "Einheitswissenschaft" aus dem "Wiener Kreis" am Beginn des vorigen Jahrhunderts, in dem man die Physik als Idealwissenschaft anerkannte, auf die andere Wissenschaften tunlichst zu reduzieren seien. Reduktionismus und Physikalismus lehnt Nida-Rümelin also energisch ab, bestenfalls möchte er den Naturalisten Quine vom Kopf auf die Füße stellen. Nicht weniger erscheint ihm die derzeitige Ökonomie als "Mystizismus".

Auch den Ansprüchen der Neurophysiologie auf Entscheiden, Denken und Handeln erteilt Nida-Rümelin eine kategorische Abfuhr und widerlegt nebenher das Experiment Benjamin Libets, wonach das Gehirn vor dem Denken seine Entscheidung trifft. Das Gehirn jedoch "entscheidet" nichts, erklärt Nida-Rümelin. Andere Philosophen haben die Konfrontation mit Libet und seinen Anhängern vermieden, wie etwa der sonst so konfliktbereite Daniel Dennett. Nida-Rümelin verweist auf die anhaltenden Qualia-Diskussionen, welche die Qualität gewisser Erlebnisse physikalischen Interpretationen entziehen. Ein Gedicht lässt sich nicht physikalisch erläutern.

Er versteht sich dabei auf die schwindelnden Höhen abstrakter Sphären ebenso zuverlässig wie auf empirische, lebensweltliche oder politische Befunde (er war Staatsminister unter Gerhard Schröder). Freilich hat er vor den eher im Illusorischen, Allgemein-Wesenhaften, Spekulativen oder Prophetischen sich verbreitenden Tiefdenkern den Vorsprung zahlreicher handfester Beispiele aus dem alltäglichen Leben bis zur Frage, wann man Trinkgeld geben muss und wann nicht.

Jetzt hat er mit seinem Opus magnum, wie der Verlag De Gruyter das Werk nennt, ein weitausgreifendes Buch vorgelegt, dem er den Titel gibt "Eine Theorie praktischer Vernunft". Diesem Band gilt die nachdrückliche Distanzierung von manchen dominierenden Auffassungen. Nida-Rümelin plädiert darin für eine strukturelle, nicht am Einzelfall hängende, langfristig planende Vernunft oder Rationalität kooperativer Art, also im Dialog mit anderen. Und diese Rationalität muss kohärent sein, sie muss mit anderen rationalen Beschlüssen zusammenpassen. Dazu bedient er sich mit allen Vorbehalten bei John Rawls, Amartya Sen, Kenneth Arrow, John von Neumann, Wittgenstein oder Karl Popper, dessen kritische Rationalität er indes nicht erwähnt.

"Die Beweislast tragen diejenigen, die eine These vertreten, die mit unseren lebensweltlichen Überzeugungen schwer in Einklang zu bringen sind"

Kritik an Nida-Rümelins praktischer Vernunft oder Rationalität, die das Gegenteil von Descartes' fundamentalistischer Rationalität ist, kam erst spät auf und richtet sich in erster Linie gegen sein Zutrauen zur alltäglichen Praxis der Lebenswelt des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens. "Gründe sind objektiv", sagt er, und dass sich Wissenschaftler an der alltäglichen Praxis der Lebenswelt orientieren müssen und nicht umgekehrt. Das ist wohl tatsächlich eine neue Form der Ethik oder Moralbegründung. Es bedürfe allerdings, meinen seine Kritiker, nachbohrender Maßnahmen zu den Begriffen Lebenswelt und Lebensform, die ansonsten zu vage und umgangssprachlich blieben.

Nida-Rümelin hat zu fast allen Vorwürfen, sofern er sie als berechtigt ansieht, gute Argumente parat. "Die Beweislast", schreibt er beispielsweise, "tragen diejenigen, die eine These vertreten, die mit unseren lebensweltlichen Überzeugungen schwer in Einklang zu bringen sind". (Ist das ein gültiges Argument?) An vielen Stellen verweist er aber auf mögliche mangelnde Willensstärke. Sind damit Fragen der Ethik an die Psychologie überwiesen? Willensstärke, etwas Psychisches, das nötig ist, um vernünftige Wünsche zu haben und sinnvolle Entscheidungen zu treffen und danach konsequent zu handeln?

Und so ist es nach wie vor der Fall, dass es überall in der Welt an Willensstärke zu fehlen scheint, denn Korruption, Betrug und Verbrechen herrschen seit der Antike allenthalben, demgegenüber wir dauernd etwas sollen sollen. "Wolle, was du sollst, dann kannst du, was du willst" hat der gescheite Friedrich Rückert gewusst. Aber wer schafft das schon?

Julian Nida-Rümelin: Eine Theorie praktischer Vernunft. Walter De Gruyter, Berlin/Boston 2020. 448 Seiten, 49,95 Euro.

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