Sachbuch:Gründe geben, Gründe nehmen

Lesezeit: 4 min

Robust, unaufgeregt, umfassend: Der Münchner Philosoph und Autor Julian Nida-Rümelin streitet für einen lebensweltlichen Realismus und gegen die Borniertheit der Naturwissenschaften.

Von Willy Hochkeppel

In naturwissenschaftlicher, speziell physikalischer Sprache ist der Tisch, der dort steht, eine Gitterstruktur aus Atomen und bewegten Molekülen, die je nach Temperatur mit Verflüssigungs- und Vergasungstendenz reagieren. In solcher Beschreibung ist der simple Tisch, der dort steht, nicht wiederzuerkennen. Alle diese theoretischen Gebilde wie Gitterstrukturen, Moleküle, elektromagnetische Wellen und so weiter haben zweifellos, so stellt der Philosoph Julian Nida-Rümelin fest, eine weit fragwürdigere Existenz als der Tisch, der da steht, von dem man essen kann, auf dem man schreiben kann.

Und so heißt ein Kernsatz in dem neuen Buch des Autors: "Es ist nicht die Physik, die uns die Existenz des Tisches sichert, sondern die physikalischen Theorien haben eine Bewährungsinstanz im robusten Realismus" unserer Lebenswelt, in der Dinge wie Tische und Bäume vorkommen.

Aber sind es nicht die Wissenschaften, die den Schein lebensweltlicher, alltäglicher "Wahrheiten" entlarvt haben? Das bestreitet Nida-Rümelin natürlich nicht, und er bringt zahlreiche Beispiele solcher Aufklärungen: Von der Astrologie bis zu den Globuli. Aber nachdrücklich kritisiert er die neue Borniertheit, den neuen Hochmut der Naturwissenschaften, der sie ideologisch verseucht.

Die Philosophie, findet er, hat keine spezifische Methode, sie ist vielmehr die Fortsetzung lebensweltlicher Praktiken des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens, wie es im alltäglichen Umgang von Menschen miteinander Usus ist. Hier hat die Wissenschaft nicht viel zu suchen. Die Philosophie ist hingegen Teil dieser Lebensform - ein von Wittgenstein entlehnter Begriff, über den Nida-Rümelin vor zehn Jahren ein umfangreiches Buch geschrieben hat.

Sein unlängst erschienenes Buch hat den eigenwilligen Titel: "Unaufgeregter Realismus. Eine Streitschrift". Der Realismus, den er darin präsentiert oder propagiert, versteht die alltägliche Praxis des Begründens als Stütze der Reflexion, das Unvermittelte als Halt des Diskursiven, beinahe die Fusion von Philosophie und Naivität. "Unaufgeregt" und "robust" nennt er seinen Realismus, weil er keinen archimedischen Punkt benötigt, sich keiner ontologischen Fundierung oder basalen Metaphysik versichert.

"Außerhalb des philosophischen Seminarraums werden alle wieder zu Realisten."

Selbst die lebensweltliche Praxis im Verbund mit der Philosophie gilt nicht als das Unhintergehbare. Er nennt seinen Realismus nicht gerade glücklich "epistemischen Realismus", was man sich selbst als "erkenntnissuchend", jedenfalls als metaphysikfrei übersetzen kann. Das Ethos dieses Realismus verlange, so heißt es einmal, dass Argumente als solche zählen und nicht, wie derzeit en vogue, als Derivate sozialer, ästhetisch-kultureller, politischer oder ideologischen Interessen betrachtet werden. Der postmoderne Anti-Realismus ist Nida-Rümelin zufolge Zeichen einer Unreife. Der gegenwärtige Glaube, wir vermöchten die Realität gemäß unserer sozio-kulturellen Ideen zu gestalten und zu konstruieren, nach unserem Bilde also, habe, sagt er, sich auf Freuds Realitätsprinzip berufend, etwas Kindliches.

Der Realismus ist, wie der Idealismus, ein nahezu uferloses Sammelbecken verschiedenster Ansichten über die Welt und den Menschen, so dass ein neuer Realismus sich schwertut, Profil zu gewinnen. Der robuste, unaufgeregte, umfassende Realismus, den Nida-Rümelin als angemessen und sinnvoll zur Diskussion stellt, gewinnt Profil, wenn man sieht, was er alles nicht ist. Er ist vor allem kein Naturalismus, wie er in den Naturwissenschaften etabliert ist, folglich auch kein fast synonym verwendeter sogenannter wissenschaftlicher Realismus. Diese Begriffe gelten ja seit Längerem als Modell für alle anderen Disziplinen, die sich als wissenschaftlich verstehen, mehr und mehr auch für die Geisteswissenschaften, die zu "naturalisieren", das heißt auf die Physik zu reduzieren sind. In der Biologie ist das Geistige, das Bewusstsein, nur mehr der Dampf, den die Arbeit der grauen Hirnmaterie nebenbei produziert. Es soll, so der naturalistische Traum, Psychologie auf Biologie, diese auf Chemie und diese dann auf Physik zurückgeführt werden, und die Physik soll schließlich die Geisteswissenschaften konsumieren!

Gegen derartige "Überspanntheiten" sollten Philosophen lebensweltliche Belange in Position bringen, denn die so erfolgreichen Naturwissenschaftler sind keineswegs in der Lage, die Komplexität lebensweltlicher Wirklichkeit zureichend zu durchdringen. Das Geistige, Mentale hat eine eigene Qualität, ist mit physikalischer Sprache nicht zu beschreiben.

Nida-Rümelin kennt sich wie nur wenige Philosophen in den Naturwissenschaften aus und weiß deren Bedeutung zu schätzen. Er weiß Statistiken zu handhaben, hat Politik aus nächster Nähe kennengelernt. Das kommt ihm etwa bei der kurzen Auseinandersetzung mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls zugute.

Bei der Einschätzung des amerikanischen Denkers John Searle scheint der Autor allerdings in die Irre zu gehen. Er zitiert Searles Frage, wie es möglich sei, dass es Bewusstsein, Intentionalität, Sprache, Willensfreiheit, Ethik und so weiter gebe, "wenn das Universum aus nichts weiter besteht als physikalischen Teilchen in Kraftfeldern?"

Nida-Rümelin versteht die Frage - wohlgemerkt: es ist eine Frage - so, als müssten diese mentalen, geistigen Dinge aus den physikalischen Gegebenheiten abgeleitet werden. Doch John Searle hat das kategorial Andere des Mentalen immer wieder betont und ein ganzes Buch über "Die Wiederentdeckung des Geistes" geschrieben. Nida-Rümelin kommt denn auch nicht umhin einzugestehen, wieso es ihm eigentlich gegen den Strich geht, gerade Searle als Erznaturalisten zu bezichtigen.

Wissenschaftlicher und naturalistischer Realismus werden somit zugunsten eines lebensweltlichen Realismus ausgeschieden. Diese Lebenswelt, heißt es einmal gewagt, enthalte Selbstverständlichkeiten, die infrage zu stellen sinnlos sei; so wie eine pauschale Verneinung des Realitätsprinzips bestenfalls als philosophisches Gedankenexperiment möglich ist, keineswegs als Lebensform. "Außerhalb des philosophischen Seminarraums werden alle wieder zu Realisten." Und da gibt es auch Tatsachen, die nicht durch die jeweilige Kultur bedingt sind, und die nicht unser Fabrikat sind (Zwei mal zwei gleich vier ist nicht kulturrelativ).

Es ist unsere Situation, in einem offenen Erkenntnishorizont zu stehen, es gibt keine felsenfeste ontologische Bastion. Das ist in etwa mit Nida-Rümelins "epistemischem Realismus" gemeint.

Unter dem Fokus dieses Realismus erscheint vieles unserer derzeitigen Kultur wie in unserem Szientismus fragwürdig bis unzulänglich. Doch vielleicht geht Nida-Rümelin zu weit, wenn er behauptet, die Welt der Physik sei "radikal verarmt", in ihr gebe es "keine Erkenntnis und keine Realität." Ansonsten betreibt er mit ungewöhnlichen philosophischen Mitteln - der Aufwertung alltäglicher, lebensweltlicher Praktiken - Aufklärung gegen die gängigen Pseudoaufklärungen.

© SZ vom 10.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: