Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Fremd sein in Holland

Mit Julia Trompeters Selbstfindungsroman "Frühling in Utrecht" eine neue Sprache lernen.

Von Jörg Magenau

Unter den jüngeren deutschen Erzählerinnen und Erzählern lassen sich zwei Großgruppen unterscheiden: Die einen haben eine Großmutter, die in der NS-Zeit lebte oder einen Onkel, der bei der Stasi war. Sie bauen auf historische Stoffe und leihen sich den moralischen Konflikt und die biografische Dramatik bei den Vorfahren.

Wer nichts davon vorweisen kann, muss sich entweder zu genuinem Erzählen aufschwingen, also etwas erschaffen, und das ist selten, oder auf eigene Erlebnisse zurückgreifen. Da geht es dann meistens um Beziehungsprobleme, um die diversen Milieus in Berlin, um Reisen oder aber um die Strenge der Provinz. Julia Trompeters zweiter Roman "Frühling in Utrecht" gehört mustergültig zu dieser Gruppe, da sie Beziehung, Berlin, Provinz und Reise - also das, was Verlage gerne "die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" nennen - im Erfahrungsraum ihrer Heldin zusammenbringt.

Diese Heldin, Klara, ist erkennbar ein Alter Ego der Autorin. Julia Trompeter, Jahrgang 1980, hat Philosophie und Literaturwissenschaften studiert, in Berlin promoviert und arbeitet seit 2017 an der Universität Utrecht. Den Weg von Berlin nach Utrecht lässt sie auch ihre Romanfigur gehen, damit sie stellvertretend all die Gedanken denken und Erlebnisse erleben kann, die sie selber machte, als sie dorthin zog.

So weit der ausbeutbare autobiografische Hintergrund. Allerdings ist Klara nicht an der Uni angestellt, sondern findet Arbeit als Serviererin in einem Teesalon. Da ist es belebter, sie findet schneller Kontakt mit der Bevölkerung und erfährt sich als Fremde, als Deutsche - denn wo könnte man das besser als in Holland.

Was sind "bitterballen", und warum ist "brood" alles Mögliche, aber kein Brot?

In ihrem Debüt "Die Mittlerin" berichtete Julia Trompeter, wie eine junge Frau, die einen Roman schreiben will, einen Verlag findet und was auf dem Weg zur Veröffentlichung alles passiert. Dieses Debüt handelte also genau von dem, was es war: ein erster Roman. Es folgte ein Gedichtband mit dem schönen Titel "Zum Begreifen nah", der die Lust an der Sprache als Werkzeug erkennen ließ. Diese Sprachlust prägt nun auch "Frühling in Utrecht", denn die Annäherung an die holländische Alltagswelt funktioniert zunächst und vor allem über die Sprache. Holländisch ist vom Deutschen ja nicht so weit weg; manche Begriffe sind sogar identisch, aber eben nur die Begriffe und nicht unbedingt die Bedeutung. In dieser schmalen hermeneutischen Kluft richtet Klara sich genüsslich ein und behandelt das Problem hingebungsvoll in ihrem "dagboek". Dass Fietsen zwar so ähnlich aussehen wie Fahrräder, Radfahren in Holland aber etwas völlig anderes ist als in Deutschland, lernt sie schnell. Aber was sind "bitterballen", und warum ist "brood" oder "broodje" alles Mögliche, aber bestimmt kein Brot?

Damit aus diesen eher essayistisch-feuilletonistischen Betrachtungen dann doch ein Roman wird, kommt die Liebe ins Spiel, beziehungsweise die "relatieverslavung" - die Beziehungsabhängigkeit. Da ist auf der einen Seite, in Berlin, der Exfreund Hauke, den Klara zusammen mit der Stadt genervt verlassen hat. Mit ihm hat sie eine Kneipe in einem hippen Stadtteil geführt, konnte aber die geballte Creativeness von jungen Menschen, die T-Shirts mit lustigen Sprüchen bedrucken, nicht mehr ertragen. Eines Morgens hat sie den Freund ansatzlos und ohne Ankündigung verlassen. Es war eine Flucht. In Utrecht lernt sie den mindestens zehn Jahre jüngeren Thijs kennen und lieben, ohne Beziehungsambitionen zu entwickeln. Er ist in seiner offenen, tiefenentspannten Freundlichkeit der Prototyp des Holländers - jedenfalls derer, die nicht Geert Wilders wählen. Aber die kommen in diesem Buch dankenswerterweise auch nicht vor.

Klara ist vor allem mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Fremdheit, ihrer Einsamkeit (nicht nur an Weihnachten), ihrer Vergangenheit. Denn so sehr sie zunächst auch glaubte, alles hinter sich gelassen zu haben, holt sie das Verdrängte nach dem Grundgesetz der Psychoanalyse bald wieder ein. Hauke, der Zurückgelassene, taucht plötzlich an unmöglichen Orten auf, steht mit Hund vor dem Haus, und auch wenn sie weiß, dass es nicht sein kann, muss sie sich diesen Visionen stellen. In vier Kapiteln - Herfst, Winter, Lente und Zomer - arbeitet sich Klara durchs Jahr, der holländischen Gegenwart entgegen und an ihrer Vergangenheit ab, bis sie endlich bereit ist, das neue Leben in der Fremde anzunehmen.

Das ist unspektakulär, aber amüsant und sympathisch. Der Plauderton des tagebuchartigen Berichts neigt jedoch zu einer Oberflächlichkeit, die sich vor allem dann zeigt, wenn es in die Tiefe gehen soll. So findet Klara zu der Erkenntnis, dass Freiheit nicht bloß Freiheit von etwas ist - nämlich von Hauke, der Herkunft, Deutschland und Berlin - sondern immer und vor allem Freiheit zu etwas. Das ist so wahr und so banal, dass man es jenseits des Grundstudiums Philosophie eigentlich nicht mehr aufschreiben sollte. Wer sich aber für die Nuancen holländischer Befindlichkeit und Feinheiten der Sprache interessiert, der kann an diesem Buch Gefallen finden. Und nebenbei lernt man sogar ein bisschen Holländisch.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2019
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