Juli Zeh hat ihrem neuen Roman "Unterleuten" ( SZ vom 21. März) ein Motto vorangestellt: "Alles ist Wille". Der Satz könnte von Schopenhauer oder von Nietzsche stammen, aber ein weit weniger klingender Name steht unter dem Zitat: Manfred Gortz.
Manfred Gortz? Der Name fällt in Zehs Roman noch häufiger. Eine der Hauptfiguren nämlich, Linda Franzen, hat ein Buch von diesem Gortz gelesen, das sie ständig zitiert. "Dein Erfolg" heißt es, eine Art neodarwinistischer Lebensratgeber, in dem so schauderhafte Dinge stehen wie: "Leistung ist das wichtigste Kriterium für die Eröffnung von Erfolgs- und Lebenschancen. Leistung muss deshalb gemessen und immer verglichen werden. Wir brauchen Benotung, Bewertung, Ranking und Ratings. Das allerdings schmeckt den Gutmenschen nicht, die sonst bei jeder Gelegenheit Demokratie und Chancengleichheit für alle fordern."
Gortz trifft auch die Unterscheidung zwischen "Movern" und "Killjoys". Unter "Killjoys" fallen besagte Gutmenschen, "große Teile der intellektuellen Elite unseres Landes", mithin die sogenannte Lügenpresse. Ein Killjoy aber ist, in den Augen von Linda Franzen, auch der gescheiterte Akademiker Gerhard Fließ, der in Unterleuten den örtlichen Vogelschutzbund leitet und Franzen daran hindern will, einen Stall für ihr geliebtes Pferd zu bauen.
Linda Franzen sieht sich selbst entsprechend als "Moverin". Sie ist es, die Dinge, das heißt vor allem Menschen bewegt: "Denn Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt", heißt es bei Gortz. Will sie anderen diese Regel erläutern, greift Franzen auf ihre Erfahrung mit Pferden zurück: Obwohl Pferde doch viel größer seien als Menschen und auch viel stärker, würden sie sich doch von ihnen führen lassen, zumindest von jenen, die zu führen verstehen, die sich also mit Selbstsicherheit und Ruhe bewegen.
"Wissen Sie", sagt die Autorin auf Nachfrage, "ich kann sogar in der Zeit rückwärts schreiben."
Körpersprache ist entscheidend. Darin unterscheide sich der Mensch nicht vom Tier. Und einige der schönsten Szenen in "Unterleuten" sind denn auch jene, in denen Linda Franzen ihre Gegenüber wie am Zaumzeug durchs Dorf führt, zum Beispiel den Ingolstädter Unternehmensberater Konrad Meiler, der in Brandenburg riesige Landflächen gekauft hat, und darum nun mitspielt im Spiel um die Windkrafträder, die in Unterleuten gebaut werden, und deren Bau dazu führt, dass in diesem beschaulichen Dörfchen das Unterste zuoberst gekehrt wird.
Juli Zeh ist mit "Unterleuten" ein spannender, höchst unterhaltsamer und zuweilen ziemlich witziger Roman gelungen, den man trotz seiner Länge in kürzester Zeit wegliest. Und nach der Lektüre normalerweise weglegen würde. Stünde nicht die Begegnung mit der Autorin auf einem Podium an, bei der Juli Zeh über ihr Buch spricht. Also geht dem Treffen eine kurze Recherche im Internet voraus. Und dort taucht dann plötzlich Manfred Gortz und sein Buch "Dein Erfolg" auf. Gibt es das Buch also wirklich? Zuerst ist es 2015 in einem ominösen "Portobello Verlag", dann bei Goldmann erschienen, gut hundert Seiten umfasst das Werk, das einige begeisterte, einige entsetzte Kritiken auf Amazon bekommen hat.
Im Jahr 2015 erschienen? Aber wenn Juli Zeh zehn Jahre an "Unterleuten" gearbeitet hat, wie zu hören war, wie hat sie es dann geschafft, in so kurzer Zeit auch noch dieses Machwerk einzuarbeiten? Zum Überlegen bleibt nicht viel Zeit. Frage an Juli Zeh im Rahmen der Veranstaltung, wie ihr das gelungen ist. Zuvor hat sie bereits erzählt, wie schnell sie schreiben kann. Also sagt sie bloß: "Wissen Sie, ich kann sogar in der Zeit rückwärts schreiben."
Mit diesem Scherz ist die Sache zunächst vergessen, bis einige Zeit später die Mail einer gewissen Gloria Frank eintrifft. Diese behauptet, ebenfalls bei der Veranstaltung gewesen zu sein. Daraufhin habe sie das Buch von Frau Zeh und auch das von Herrn Gortz gelesen, und da gäbe es doch erstaunliche Überschneidungen, ja ganze Figurenkonstellationen wären praktisch identisch, im Grunde habe Frau Zeh die Beispielgeschichten aus "Dein Erfolg" genommen und daraus ihr eigenes Buch gestrickt. Warum sind jetzt alle so wild darauf, irgendwo irgendwelche Plagiate zu entdecken? Dann aber schickt Frau Frank einige Passagen aus Gortz' Buch, und diese Passagen sind tatsächlich erstaunlich.
Auf der Internetseite von Manfred Gortz findet sich seine E-Mail-Adresse. Kurze Bitte um ein Interview. Telefonieren mag Herr Gortz nicht, aber auf die Frage, ob er denn Frau Zehs Buch gelesen habe, kommt die Antwort: keineswegs, aber da sie erfolgreich zu sein scheine (und das ist sie - Platz drei der Spiegel-Bestsellerliste), "vermute ich, dass ich sie mögen würde. Grundsätzlich macht es mir nichts aus, zitiert zu werden, im Gegenteil, mir ist alles willkommen, was den Bekanntheitsgrad meiner Arbeit erhöht." Ein Ellenbogenmensch offenbar, aber immerhin kein missgünstiger, so der Eindruck. Dann folgt allerdings noch ein Nachsatz. Er wolle sich mit einer Literaturempfehlung revanchieren: "Cybris" von Carol Felt: "Derzeit mein absolutes Lieblingsbuch."
Das Problem ist nur: Dieses Buch gibt es gar nicht, es ist ein Fake, eine Nebelkerze, im letzten Herbst von den beiden Journalisten Sascha Lobo und Volker Weidermann entzündet. Und da geht einem dann endlich ein Licht auf: Diesen Manfred Gortz gibt es ebenso wenig. Er selbst ist, auch wenn es sein Buch wirklich gibt, ebenso ein Fake wie diese Carol Felt. Was steht da in seiner Kurzvita? Unternehmensberater, hat in Ingolstadt studiert? Genau wie dieser Konrad Meiler im Roman? Gehört Goldmann nicht ebenso wie Juli Zehs Verlag zu Random House? Und dann die Fotos: Auf der Startseite schaut er aus wie ein ganz harter Hund, zu hundert Prozent auf Erfolg getrimmt. Auf der Kontakt-Seite wiederum lacht er auf eine Weise in die Kamera, die den Verdacht nahelegt: Der lacht einen doch aus. Das ist doch ein Schauspieler.
Lieber Herr Gortz, gibt es Sie überhaupt oder sind Sie ein Fake, gut erfunden von Frau Zeh? Das finde er nun ein wenig befremdlich, lautet die Antwort. Außerdem: Die anderen gebe es doch auch. Und dann folgt der Link zur "Reiterrevue", einem Internetorgan, das in "Unterleuten" ebenfalls eine Rolle spielt. Auf der Seite ein Eintrag von Frederik Wachs - dem Freund von Linda Franzen.
"Bei uns piept's."
Das Spiel lässt sich locker noch viel weiter treiben. Nur ein paar Klicks entfernt findet sich die Seite des "Vogelschutzvereins Unterleuten", Motto: "Bei uns piept's". Daneben ein Foto des Ersten Vorsitzenden Gerhard Fließ (des Killjoys aus dem Roman). Ein Link führt zur Seite des Märkischen Landmanns, das ist der Gasthof im (fiktiven!) Unterleuten. Nächste Gemeinderatssitzung am 12.6.2013, steht da. Und: Der Fischeintopf ist übrigens wieder erhältlich . . . Etwas später, bei der schließlich unvermeidlichen Lektüre von "Dein Erfolg", ist sogar das spektakuläre Ende von "Unterleuten" zu entdecken. Wie Gerhard Fließ seinen Nachbarn krankenhausreif schlägt. Nicht einmal alle Namen sind verändert.
Höchste Zeit also für einen Anruf: "Liebe Frau Zeh, wie verkauft sich denn ,Dein Erfolg'?" - "Ich glaube, nicht so gut, aber da müssten Sie mal beim Portobello Verlag nachfragen." - "Aber den Portobello Verlag gibt es doch gar nicht, liebe Frau Zeh." - "Nein?" - "Anders gefragt, wer ist denn der Mann, unter dessen Foto auf der Internetseite des Vogelschutzbundes der Name ,Gerhard Fließ' steht?" - "Ist das nicht Gerhard Fließ? Ich dachte immer, das wäre der Gerhard." - "Hmm . . ." - "Ich fürchte, Sie werden von mir nicht die Informationen bekommen, die Sie gerne hätten."
Schade eigentlich. Oder auch nicht. Wie hieß noch Juli Zehs zweiter Roman? Richtig, "Spieltrieb"!