Jugendroman:Widersprecht nicht

Ein Schwarzer erlebt den Rassenkonflikt in den USA. Er wird von einem weißen Polizisten zusammengeschlagen.

Von Ralf Husemann

Zugegeben: Sehr klug ist das nicht, was Rashad Butler da in der US-Kleinstadt Springfield anstellt. Der 16-jährige Afroamerikaner braucht dringend Geld, will sich außerdem Chips und ein Päckchen Kaugummi kaufen, ist aber pleite. Sein älterer Bruder Spoony soll ihm aushelfen. Aber anstatt auf ihn zu warten, geht er schon mal in einen Laden, der dafür bekannt ist, dass hier relativ viel geklaut wird. Das will Rashad auf keinen Fall, schließlich absolviert er, um seinem staatstreuen Vater zu imponieren, in seiner Highschool sogar ein paramilitärisches Training für künftige Militäroffiziere. Nun macht er aber einen entscheidenden Fehler. Er greift sich eine Chipstüte und versucht erst dann, Spoony anzurufen. Sein Handy ist aber in der Sporttasche. Als er knieend den Reißverschluss aufmacht, ist die Sache schon gelaufen. Eine andere Kundin stolpert über ihn, der Kassierer schreit "Der wollte die Chips klauen", und sofort stürzt sich ein Polizist auf ihn. Er beschimpft ihn als Dieb, stößt ihn durch den Eingang nach draußen, knallt ihn mit dem Gesicht nach vorne auf den Bürgersteig und schlägt immer wieder wild auf ihn ein. Rashads Nase ist gebrochen, sein ganzer Körper ein einziger Schmerz. Obwohl er schon Handschellen verpasst bekommen hat, schlägt der Polizist weiter zu, weil Rashad angeblich "Widerstand leisten" will.

Das ist der, vielleicht etwas konstruierte, Ausgangspunkt dieser Geschichte, die zwar klar gegen Rassismus und Brutalität der amerikanischen Polizei Position bezieht, die aber trotzdem ohne platte Polemik auskommt. Den beiden Autoren, dem rastalockigen Jason Reynolds aus Brooklyn - der im letzten Jahr mit seinem Debüt "Coole Nummer" Aufsehen erregte - und dem Weißen Brendan Kiely aus Greenwich Village ist es gelungen, mit feinen, differenzierten Beobachtungen eine Kleinstadt zu zeichnen, die in der hitzigen Diskussion über den Vorfall quasi in zwei Heerlager zerfällt.

Dass die Schwarzen nicht immer nur die unschuldigen Opfer und die Weißen die abgestumpften brutalen Täter sind, wird an mehreren Personen deutlich gemacht. Rashads Vater, ein völlig angepasster Law-and-Order-Typ, bläut seinen dunkelhäutigen Söhnen ein: "Wehrt euch nicht. Widersprecht nicht. Hebt die Hände. Haltet den Mund. Tut einfach alles, was sie von euch verlangen, dann passiert euch nichts." Doch sehr spät gesteht der Vater, der eine Zeitlang Polizist war, dass er selbst einmal auf einen jungen unbewaffneten Schwarzen geschossen hat, der seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt ist. Auch der öffnete nach einer Schlägerei mit einem weißen Jungen seinen Rucksack. Aber nicht, um eine Waffe, sondern um seinen Inhalator herauszuholen. Und plötzlich ist der Vater in Rashads Augen genauso "ein schießwütiger Bulle" wie der weiße Polizist Paul, der ihn zusammengeschlagen hat.

Eben dieser Paul hat auch noch ganz andere Facetten. Er hat sich rührend und selbstlos um den (weißen) Jungen Quinn, seinen kleinen Bruder und seine Mutter gekümmert, nachdem der Vater in Vietnam ums Leben gekommen war. Paul begründete das damit, dass Quinns Vater ein Held gewesen sei und er ihm nacheifern wolle: "Ich möchte jemand sein, der etwas bewirkt." Und Quinn fühlte sich von dem nur wenige Jahre Älteren getröstet, der auch alles tut, um ihm Tricks für das in der Kleinstadt eminent wichtige Highschool-Basketballspiel beizubringen.

Die Möglichkeit unterschiedlicher Zugänge zur Wahrheit wird deutlich

Die Spieler sind ein Spiegel der zerrissenen Stadt: Hier wird zwar immer vom Trainer der angeblich unerschütterliche Teamgeist beschworen, aber tatsächlich hassen sich inzwischen Pauls und Rashads Freunde. Und mittendrin steht Quinn, der nämlich zufällig beobachten konnte, wie Paul vor dem Laden Rashad krankenhausreif geschlagen hat. Es dauert lange, bis er versteht, dass Loyalität - zu Paul wie zu seinen Basketball-Kameraden - nicht alles ist, sondern dass es wichtiger ist, für seine Überzeugungen einzustehen oder, etwas pathetischer ausgedrückt, die Welt etwas zu verbessern. Oder, um mit dem Autor Reynolds zu sprechen: "Wenn du in Fällen der Ungerechtigkeit neutral bleibst, dann hast du die Seite des Unterdrückers gewählt."

Mit einer großen Demonstration, auf der die Namen vieler unschuldig getöteter junger Schwarzen verlesen werden, endet dieses sehr lesenswerte Buch, das zum Glück nur gelegentlich den vermeintlichen Jugend-Slang überstrapaziert. Die Autoren lassen abwechselnd das Geschehen von Rashad und von Quinn schildern. Das entspricht zwar nicht ganz dem Untertitel "Zwei Seiten einer Geschichte", da die Täterrolle ja immer klar bleibt, aber die Möglichkeit unterschiedlicher Zugänge zur Wahrheit wird so deutlich. Und die Zahlen sprechen für sich. Die Gefahr für junge schwarze Männer in den USA, von der Polizei erschossen zu werden, ist prozentual fünfmal so hoch wie für gleichaltrige Weiße, obwohl ihr Anteil in der Bevölkerung nur 13 Prozent ausmacht. Auch der Anteil der afroamerikanischen Gefängnisinsassen ist dreimal so hoch. Das mag vielleicht die Nervosität mancher Polizisten erklären, nicht aber ihre Schießwütigkeit. Im vergangenen Jahr kamen so in den USA 1134 Menschen ums Leben, die Mehrheit waren übrigens Weiße. In Deutschland sind es pro Jahr etwa sieben. (ab 14 Jahre)

Jason Reynolds / Brendan Kiely: Nichts ist okay! Zwei Seiten einer Geschichte. Aus dem Englischen von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt. dtv (Reihe Hanser) 2016. 320 Seiten, 14,95 Euro.

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