Süddeutsche Zeitung

Jugendroman:Rock'n'Roll unterwegs

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"Von vorn nach Süden", ein Parforceritt der Pubertät, durch das Münsterland und Hessen, abei dem eine Gruppe von Jugendlichen einen verschwundenen Freund sucht und dabei jeder sich selbst findet.

Von Roswitha Budeus-Budde

Ein heißer Sommernachmittag auf dem Hinterhof des Penny- Markts, irgendwo im Ruhrgebiet. Spotlight auf eine Gruppe von Jugendlichen, die als Aushilfen im Markt arbeiten und hier in den Pausen abhängen. Mit Otto, der als Bassist in der Rockband Die Blümchen-Schlüpper auf Festivals auftritt, gleichzeitig der Exfreund von Vika - die sich mit Praktika über Wasser hält - und Vater der gemeinsamen Tochter Fine. Mit Pavel, der nicht auf ewig in der Hinterhofszene festsitzen will, aber die Gruppe zusammenhält mit Grillabenden und Ideen, wie man das Leben hier verbessern kann. Dazu die Brüder Levoy und der erst dreizehnjährige Marvin, aus einem schwierigen sozialen Milieu. Und natürlich Can, der auf die Zulassung zum Abitur wartet und der Sonnyboy der Gruppe ist, der mit Marie redet, die ihren Realschulabschluss feiert. Alle werden sie beobachtet von einem älteren Mädchen, ohne Namen, das am Rand steht und "Entenarsch" von ihnen genannt wird. "Das werde ich immer wissen und nie vergessen." Aber wo soll es hin mit seiner Einsamkeit - das Studium hat es gerade geschmissen -, ohne Freunde, in dieser Stadt, in der es nicht wirklich angekommen ist.

"Mit 13 darf man Zicke sein, mit 16 ist man frei, aber mit 19 ist man noch nicht verloren. Ich bin volltrunken vor Glück, dass es mich gibt."

Die Autorin Sarah Jäger entwickelt in ih-rem Debütroman "Von vorn nach Süden" die Handlung wie in einem Film. Mit fetzigen Dialogen, oft schonungslos direkt und komisch, die wie Pingpongbälle ein besonderes Frage- und- Antwortspiel inszenieren und den Rhythmus des Erzählens bestimmen.

An diesem Nachmittag, den das Mädchen am Rand beobachtet - es wird die Geschichte aus seiner Sicht erzählen -, ist die Gruppe in Aufruhr, denn einer fehlt seit sechs Monaten, der 16-jährige Jo, der nach einem Streit mit Marie verschwunden ist und von niemandem, weder von den geschiedenen Eltern noch in der Schule vermisst wird. Doch Marie sorgt sich um ihn, will ihn suchen, und die Postkarten, die er ab und zu schickt, mit kleinen Botschaften als poetische Elfchen, signalisieren ihr, wo sie ihn finden könnte.

Doch wie kann man losfahren, ohne Auto und einen Kumpel, der einen Führerschein hat? Ein spannende Frage, die die Autorin nutzt, um hier dem Mädchen vom Rand eine Chance zu geben, in der Gruppe wirklich aufgenommen zu werden und gleichzeitig sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, - weil niemand ahnt, dass es direkt Schuld an dem Verschwinden des Jungen hat. Und so wechselt die Szene vom Münsterland, wo Jos Mutter wohnt, nach Hessen zu einem Kinderfreund und Ulm, der vorerst letzten Station. Immer in der Schrottkarre der Erzählerin, die mit Marie und Can über die Landstraßen zuckelt, da sie sich ohne Fahrpraxis weigert, auf die Autobahn zu gehen. "Den Lkws dabei zusehen, wie die links an einem vorbeiziehen", meint Can vom Rücksitz aus, wo er vor Hitze fast umkommt, "so werden Abenteuergeschichten geschrieben." Und es wird eine Abenteuergeschichte werden, dieses Roadmovie mit einer ganz eigenen Langsamkeit, in der komische Situationen und Erfahrungen mit Land und Leuten sich abwechseln und den drei Reisenden Zeit gibt, ihre eigenen Coming-of-Age-Erfahrungen zu machen, die sie einander näherbringen auf ihrer Tour.

Ihr chronischer Geldmangel zwingt sie auch, die Penny-Märkte als Anlaufstationen zu nutzen, denn sie hoffen hier bei Leidensgenossen Schlafmöglichkeiten zu finden. Und geraten bei spontanen Begegnungen in wilde Partys. Bei der die Erzählerin zum ersten Mal das Gefühl hat, "dem Leben an der Seite einer steinernen Mutter" zu entkommen. "Mit 13 darf man Zicke sein, mit 16 ist man frei, aber mit 19 ist noch nichts verloren, ich bin volltrunken vor Glück, dass es mich gibt."

Und führt nun der zweite Teil dieses Roadmovies zum Happy End? Wird sich am Ende klären, was wirklich mit Jo geschah? Oder lockte die Autorin von Anfang an ihre Leser auf eine falsche Fährte? Wieder wechselt die Szene, diesmal zu einem Open-Air-Festival, auf dem die "Blümchenschlüpper" auftreten und alle vom Hinterhof mitkommen, weil sie von "Fünfzehn Cent", dem Freund von Jo auf ihrer letzten Station in Ulm die Nachricht bekamen, dass er dort sein wird. Doch sie werden weiter nach ihm suchen und trotz des wilden Musiklebens, das sie in Ekstase versetzt, ihre Fahrt getrennt fortsetzen. Denn dieser Parforceritt der Pubertät endet mit einem Clou, der sich schon in einer SMS an das Mädchen vom Rand andeutet. "Vielleicht solltest du langsam mal kapieren, dass du gar nicht so kacke bist, wie du denkst", schreibt ihr Cem, den sie liebt. Und gibt dem Leser das Gefühl, dass es seine Erfahrungen sind, von denen er gerade gelesen hat. (ab 14 Jahre)

Sarah Jäge r: Nach vorn nach Süden. Rowohlt, Hamburg 2020. 224 Seiten, 18 Euro.

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SZ vom 10.03.2020
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