Süddeutsche Zeitung

Jugendroman:Der Küchengott

Der Vater und sein Chinarestaurant, die Schule und die Freundinnen, alles bekommt eine neue Bedeutung durch die Fluchtgeschichte der Familie. Ist sie wie eine Banane, innen weiß und außen gelb?

Von Michael Schmitt

Flüchtlinge haben ein Leben vor der Flucht und manchmal auch eines danach. Nachrichtenbilder zeigen meist keines davon, sondern nur den Moment einer Rettung oder die Bedrängnisse in einer Übergangsunterkunft. Die sechzehnjährige Mini, Tochter einer chinesischen Familie, die in einer kleinen westfälischen Stadt lebt, kennt wiederum nur das Leben nach der Ankunft. Ihre Angehörigen sind erst vor den Kommunisten aus China nach Vietnam geflohen, und dann, nach dem Sieg der Nordvietnamesen, 1976 auch aus Vietnam nach Thailand und schließlich in die Bundesrepublik. Sie sind "Boat people" der ersten Generation. Mini war damals ein Kleinkind, aufgewachsen ist sie bei ihrem Vater, der ein chinesisches Restaurant betreibt, wo deutschen Gästen Speisen serviert werden, die mit chinesischer Küche nicht mehr viel zu tun haben. Mini ist unter Altersgenossen nicht ausgegrenzt, sie weiß nichts über den Leidensweg ihrer Familie und kaum etwas über das Leben ihres Vaters, der keine Freunde hat und nur für die Arbeit zu leben scheint.

Mini, deren chinesischen Namen Mäi Yü die Deutschen nicht aussprechen können, ist die Ich-Erzählerin in Que Du Luus drittem Roman, der nach dem chinesischen Kalender im "Jahr des Affen" spielt, im Jahr 1992. Er beginnt als Geschichte unter Teenagern und mit der Sehnsucht nach einem gut aussehenden Jungen, endet jedoch als umfassende Initiation in das weitverzweigte Gefüge einer chinesischen Großfamilie, die sich nach der Flucht über die Welt verstreut hat, aber weiterhin über Kontinente hinweg zusammenhält. Mini erfährt dabei viel mehr, als sie eigentlich wissen möchte, sowohl über das frühere Leben in China oder Vietnam als auch über manches Unrecht, das die Familienmitglieder sich und ihren Weggenossen angetan haben, um überleben zu können. Es sind Ereignisse, die viel mehr mit ihrem eigenen Leben zu tun haben, als sie ahnte.

Und je mehr sie erfährt, desto bedrängender wird die Frage, wer sie selbst ist. Von Chinesen wird Mini als "Banane" betrachtet - außen gelb, aber innen weiß. Und ihre deutschen Freunde trifft sie kaum mehr, als ihr Vater zusammenbricht und sie vorübergehend das Restaurant am Laufen halten muss - nur zeitweise unterstützt von einem Onkel, der aus Australien zu Besuch gekommen ist.

Ihr Gefühl von Vereinzelung wächst mit ihrem zunehmend genaueren Bewusstsein für das eigene Herkommen - das ist der Motor, der diesen Roman antreibt. Gespiegelt wird das in zahllosen Details: humorvoll, wenn Mini ab und an deutsche und etwas häufiger auch mal chinesische Worte fehlen, um sich unkompliziert verständlich zu machen; irritierend, wenn sie durch den Onkel mit magischen Gebräuchen, mit den Überlieferungen von Küchengott oder Wächterlöwen konfrontiert wird. Schmerzhaft, wenn sie sich ihrer Verwandten schämt, die in einem Kaufhausrestaurant zum Frühstück schon Schnitzel essen. Manchmal möchte sie sich dann in Rauch auflösen, genauso wie jener Küchengott, von dem sie kurz zuvor noch gar nichts gewusst hat.

Der Roman jagt seine Protagonistin so von einer Verlegenheit in die andere, lässt sie dadurch aber auch zu einer Person reifen, die ihr Leben - und sogar die Zukunft des Restaurants - in die Hand nehmen kann. Nicht Teenager-Liebe und Leidenschaft geben ihr die nötige Kraft dazu, denn der Angehimmelte ist fast immer weit weg. Kraft gewinnt Mini dadurch, dass sie das Leben vor der Flucht, das sie nicht selbst geführt hat, und das Leben nach der Flucht, das sie in Zukunft führen muss, als Zusammenhang begreift und annimmt. Das macht sie in einem gewissen Maße souverän, dass öffnet ihr auch die Augen für das Leben aller anderen. (ab 14 Jahre)

Que Du Luu: Im Jahr des Affen. Carlsen (Königskinder) 2016. 288 Seiten, Euro 16,90.

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Quelle:
SZ vom 13.05.2016
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