Süddeutsche Zeitung

Jugendbuch:Süden im Souterrain

Ina erlebt, wie Armut zur Außenseiterin macht. Aber die Freundschaft ihres Nachbarjungen verwandelt den langweiligen Urlaub zu Hause in eine ganz besonders fantastische Reise, in der sie auch eine Reihe wichtiger Erfahrungen macht.

Von Ines Galling

"Im Sommer fahre ich in den Süden", meint Ina, als sich vor den Sommerferien ihre Klassenkameraden mit Reisezielen überbieten. Problem nur: Ina fährt nirgendwohin, das Geld ist knapp. Umso größer ist dafür ihre Scham: Weil sie keine Marken-T-Shirts trägt oder ohne Geschenk auf einer Geburtstagsfeier auftaucht - mit der Ausrede, sie habe es zu Hause liegen lassen. Was ihr natürlich keiner glaubt. Auch Vilmer nicht. Er ist neu in der Klasse und Inas Nachbar, doch abgeben will sie sich auf keinen Fall mit ihm, er hat noch uncoolere Klamotten als sie. Aber er lässt sich nicht abwimmeln. Irgendwann gibt sie nach, und als sie eine verlassene Souterrainwohnung finden, die zu ihrem ganz eigenen Südenparadies wird, könnte alles gut sein. Ist es aber nicht. Denn die Mitschüler fordern neue Insta-Fotos aus dem Südenurlaub, und Inas Angst aufzufliegen wird größer und größer. Dabei haben die anderen längst gemerkt, was los ist. Mit geradezu diabolischer Lust weiden sie sich an ihren verzweifelten Versuchen, den Schein zu wahren. Ina verstrickt sich immer weiter, will dazugehören, egal, um welchen Preis. Kann das gutgehen? "Irgendwo ist immer Süden" der Norwegerin Marianne Kaurin erzählt davon, wie es ist, in einer konsumfreudigen Gesellschaft weniger zu haben als andere. Es ist ein Roman über Reichtum und Armut und ein Miteinander ohne Augenhöhe. Das klingt nach klaren Gegensätzen - und soll auch so sein: "Probleme zur Debatte stellen" hat in der skandinavischen Literatur Tradition und ist vielen Autoren ein dringliches Anliegen - auch weil die Erzählung, in der alle mehr oder weniger gleich viel haben, keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Eben dies beobachtet Ina erschreckend abgeklärt.

Durch sie wird aus dem Roman mehr als ein gesellschaftskritisches Exempel, denn ihren Blick umflort eine Traurigkeit, die Ausdruck nicht nur ihrer Resignation, sondern auch ihrer Zerrissenheit ist - merkt sie doch, wie sehr sie ihre Integrität verrät und sich korrumpieren lässt.

Marianne Kaurin: Irgendwo ist immer Süden. Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther. Atrium Verlag (Woow Books), Zürich 2020. 240 Seiten, 15 Euro.

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Quelle:
SZ vom 09.04.2020
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