Süddeutsche Zeitung

Jugendbuch:Jede Menge Fragen

Lesezeit: 3 min

Der amerikanische Autor Jason Reynolds stellt seinen Jugendroman "Ghost" in München vor, ein Buch über Zugehörigkeit und Integrität

Von Ricarda Hillermann

Ich wünschte, ich könnte euch sagen, was ich dabei gedacht hab. Aber das kann ich nicht. Wahrscheinlich hab ich an gar nichts gedacht. Bin einfach nur gerannt." So beschreibt der elfjährige Ich-Erzähler Castle Cranshaw seinen ungeplanten, doch siegreichen 100-Meter-Sprint gegen Lu, den Schnellsten aus dem "Defenders"-Laufteam. Eigentlich lief Castle, der lieber "Ghost" genannt werden möchte, bloß aus Langeweile gegen den hochnäsigen Lu. Doch sofort wirbt der Trainer Mr. Brody um den blitzschnellen Sprinter, den er als neues Mitglied für seine Laufmannschaft gewinnen will. Zum ersten Mal in seinem Leben bekommt "Ghost" die Bestätigung dafür, etwas richtig gut zu können.

Der afroamerikanische Autor Jason Reynolds, geboren 1983 in Washington DC, schreibt mit seinem Jugendroman "Ghost - Jede Menge Leben" (dtv) über und für Kinder, die an der Schwelle zur Jugend nach Zugehörigkeit und Integrität suchen. "Ghost" ist der Beginn einer vierbändigen Romanreihe, deren Hauptfiguren neben dem schlagfertigen Ghost die drei weiteren Neulinge der Laufgruppe sind: die um nichts verlegene Patina, der langbeinige, schlaksige Sunny und der großartige Lu. Ausgangspunkt der Romanhandlung ist, dass die Hauptfigur Castle in der Schule aufgrund seiner ärmlichen Familienverhältnisse ständig schikaniert wird. Ihm platzt regelmäßig der Kragen, doch weiß er nicht mit seiner Empörung und Aggressivität umzugehen. Dem Ohnmachtsgefühl des elfjährigen Castle alias "Ghost" setzt Reynolds das Motiv des Rennens entgegen. Eingebunden in eine Mannschaft, lernt Castle erstmals, was Zusammenhalt, Verantwortung und Rückgrat bedeuten.

Für "Ghost" wurde der 34-jährige Jason Reynolds 2016 als amerikanischer National Book Award Finalist für Jugendliteratur nominiert. Zu Gast in München war der US-amerikanische Erfolgsautor bereits im Juli beim White Ravens Festival; im September wird er für Lesungen der Stadtbibliothek abermals nach München reisen. In seiner eigenen Kindheit und Jugend nahm Reynolds nur äußerst selten Bücher zur Hand, erzählt er. Für ihn waren Bücher schlicht uninteressant, langweilig, nichtssagend. Meist enthielten sie idealisierte und überhöhte Lebensrealitäten, die der seinen fremd waren. Weder thematisierten sie den neuesten Eiscreme-Trend, die Eigenheiten einiger Familienmitglieder oder den Basketballsport in der Gegend. Noch die Lebenssituationen in dem sozialen Gefüge, in dem er aufgewachsen war: "Drogenabhängige, Gangs, HIV. Wir sahen die nicht als brutal, grausam oder hart an, denn die waren Teil unseres Lebens."

So interessierte sich der neunjährige Reynolds anfangs mehr für den Sprechgesang der Straße, den Rap. Durch ihn entdeckte er seine Vorliebe für Sprache: "Ich hatte keinen Platz, also habe ich mir einen Platz geschaffen." Besonders Lyrik tat es ihm an. Bereits im Alter von 21 Jahren veröffentlichte er - zunächst erfolglos - Lyrikbände. Kurz darauf fand er sich an der University of Maryland wieder, wo er Englische Literatur und Kreatives Schreiben studierte. Und da er selbst so lange keinen Zugang zu Literatur fand, will er Kinder und Jugendliche mit seinen Geschichten dort abholen, wo Fragen keimen: "Ich habe zwar die Antworten nicht, aber sehr wohl verstehe ich die Fragen, die einen in dem Alter beschäftigen, wenn man sich wundert: Was kommt als nächstes?" Wohl daher schreibt er stilistisch einfach, ohne Drumherumgerede. Sondern er trifft klare Aussagen, so geradeheraus, wie es Kinder tun: um die Welt zu verstehen, sodass sie sich selbst darin verorten können.

Rassismus ist das zentrale Thema in seinem vorherigen Roman "Nichts ist Okay!". Reynolds kritisiert darin die Polizeigewalt und Diskriminierung von Afroamerikanern in Amerika. Nicht nur in seiner Kindheit haben Reynolds diese Themen schon beschäftigt - nach wie vor befeuern sie gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. "Gesetze haben sich seither gewandelt, nur das Gedankengut ist unverändert geblieben", sagt er entschieden. Komplizentum ist laut Reynolds ebenso verantwortlich für Rassismus wie Ungerechtigkeitsstrukturen. Er will diese Ungerechtigkeit öffentlich zur Sprache bringen, deshalb finden sie Eingang in seine Geschichten. "Denn", sagt er, "du entscheidest dich dafür, nicht zu sehen, aber du kannst sehen." An dem Punkt, an dem blinder Konformismus und unhinterfragte Erziehung greifen, weckt Reynolds mit seinen emotionalen Geschichten den natürlichen Gerechtigkeitssinn seines Zielpublikums. Er ist Optimist und überzeugt davon, dass die "Millennials" die Welt verändern werden. Sie hätten das, was die Welt momentan entbehre: "Mitgefühl, Leidenschaft und Verständnis."

Um sich für andere einzusetzen, muss sich jeder zuerst mit sich selbst auseinandersetzen. Das erkennt auch der etwas vorschnelle und vorlaute "Ghost" in Reynolds Roman. Castle geistert rastlos herum. Er flieht vor der Erinnerung an seinen gewalttätigen Vater. Er rennt so schnell, um ungesehen und unversehrt zu bleiben. Und muss erst lernen, dass der Trainer Mr. Brody recht hat, wenn er ihm erklärt, "dass du nicht vor dem weglaufen kannst, der du bist, sondern erkennen musst, wer du sein willst."

Jason Reynolds: Ghost , Mo., 17. Sept., 10 Uhr, Stadtbibliothek Allach-Untermenzing; 16 Uhr, Stadtbibliothek am Gasteig

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4128218
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.09.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.