Jugend, Sex, Internet: Generation Porno:Die Tragödie ist nicht real

Lesezeit: 4 min

YouPorn, Pussykätzchen, Cumshots: Johannes Gernert sucht in seinem Buch die "Generation Porno" - und hat Mühe, sie zu finden.

Cathrin Kahlweit

Es ist irritierend, ein Buch über die "Generation Porno", über "Jugend, Sex, Internet" zu lesen, während die Medien voll sind von Berichten über missbrauchte Jugendliche, die Opfer pädophiler Lehrer oder Priester geworden sind.

Kinder und Jugendliche als Zyniker, als Laiendarsteller in einer Inszenierung expliziter Körperlichkeit, als, um im Slang und im Bild zu bleiben, abgefuckte Nutzer einer kommerzialisierten, völlig emotionsfreien Sex-Industrie - das passt nicht zu dem Gefühl, das die aktuelle Debatte bestimmt: Trauer, Mitleid, Scham, Solidarität. Und auch Angst, dass den eigenen Kindern so etwas passieren könnte, dass sie ausgeliefert sein könnten und sich nicht anvertrauen.

Nun also das Gegenprogramm, verfasst von Johannes Gernert, einem freien Journalisten aus Berlin. Er beginnt stark und intoniert heftig, indem er gleich zu Beginn in Erinnerung ruft, was im Jahr 2008 Schlagzeilen machte: kindliche Sex-Maniacs, elfjährige Dauer-Porno-Gucker, jugendliche Cliquen beim Gangbang (Gruppensex, bisweilen auch Gruppenvergewaltigungen), all das aufgeschrieben von Bernd Siggelkow, dem Gründer der "Arche", einer renommierten Hilfseinrichtung für bedürftige Kinder in Berlin.

Siggelkow hatte eine Umfrage unter Kindern aus sozial schwachen Berliner Familien gemacht und diese unter dem Titel "Die sexuelle Tragödie" publiziert. Ganz Deutschland sprach daraufhin wochenlang über Fünfjährige, die Pornos gucken, über 13-jährige Mädchen, die schon Sex mit dreißig Männern hatten, über Gruppensex, bei dem die Eltern zuschauen. Das seien keine Ausnahmen, hieß es damals, sondern das sei "die Regel in deutschen Familien, die ihre Kinder vernachlässigen". So weit, so starker Tobak.

Der Leser will nun erfahren, ob all das tatsächlich Jugendalltag ist. Ein Alltag, der, wenn es ihn denn gibt, an durchschnittlich aufgeklärten Mittelklasse-Eltern offenbar unbemerkt vorbeigeht, die unter dem Eindruck leben, dass die Entwicklung der Sexualität ihrer Kinder den gleichen Regeln folge wie die eigene: neugierig sein, ausprobieren, erschrecken, Grenzen ausloten, Spaß haben.

Übertreibt Pastor Siggelkow - und übertreibt der Autor dieses neuen Buches - maßlos, fragt man sich also, existiert die "Generation Porno" tatsächlich? Oder ist alles Geschrei über eine illusionslose, promiske Jugend nur das Produkt einer von Voyeurismus geprägten Effekthascherei?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wo, wenn überhaupt, die Generation Porno zu finden ist.

Gernert gibt darauf keine Antwort. Kein Wunder: Er hat sich entschieden, 280 Seiten über ein gesellschaftliches Phänomen zu schreiben, also muss es existieren. Aber er sucht die "Generation Porno" - und findet sie nicht.

Was er findet, lässt sich eher unter "Porno Chic" subsummieren: Grenzüberschreitungen und Tabubrüche überall da, wo mit exzessiver Körperlichkeit ein Produkt vermarktet werden soll. Bei Heidi Klum und ihren wenig bekleideten Models etwa, in Nachmittags-Talkshows und ihren Debatten über Intimrasur und Schamlippen-OPs, in Bestsellern wie "Feuchtgebiete", in Musikvideos und den Texten von Lady Ray Bitch. Nur: Wo pornographische Elemente noch als Tabubrüche funktionieren, da sind sie eben nicht "die Regel".

Tabubrüche sind nicht die Regel

Gernerts Kontakte mit Jugendlichen vollziehen sich überwiegend via Internet: Er mailt junge Mädchen an, die sich in sozialen Netzwerken mit Kunstnamen wie "Pornokätzchen" oder "Pussy" anmelden, und fragt, ob das etwas über ihr Sexualleben aussage. Die Antworten sind so naiv, wie es die Mädchen mutmaßlich selbst sind: Nein, das sei nur Spaß.

Der Autor befragt unter anderem Carl, einen 15-Jährigen aus Lüneburg, der sich abends, wenn die Eltern schlafen, unbemerkt durch Pornoseiten klickt und dessen Vorstellung von Sexualität, so Gernerts These, durch die harten und gefühllosen Darstellungen schon pervertiert ist, bevor der Junge selbst sexuell aktiv wird. Und was entdeckt der Autor? Dass der Zugang leichter geworden ist. Wo Kids sich früher schmuddelige Heftchen besorgen oder heimlich aus der Erwachsenenabteilung in der Videothek ein schwüles Video ausleihen mussten, gehen sie heute auf die Internetseite YouPorn und schauen sich Cumshots an oder gucken nachts Softpornos in der Glotze.

Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt nennt das eine "virtuelle Mutprobe". Gernert hingegen warnt halbherzig: "Ein Wohnzimmer hat keine Kasse, keinen Einlass - vor allem, wenn die Eltern abends weg sind. Jetzt kann plötzlich auch der Sohnemann ,Funny Fick und ihre Liebeskünste' kennenlernen. Ein verstörender Gedanke."

Gut getarnte Verführer

Verstörend? Nein, verstörend wäre es eher, wenn sich Jugendliche nicht auf diese Weise dem Thema der Themen zu nähern versuchten. Denn trotz des Trends zu Sex im Fernsehen, trotz der Sexualisierung der Boulevardmedien, trotz des allgegenwärtigen Zugangs zu harter Pornographie über ein paar Clicks im Internet gilt, ganz banal, was schon vor Generationen galt: Jugendliche, das belegt jede Shell-Studie, das zitiert auch Gernert, träumen von der großen Liebe, sie wollen heiraten, ein Haus im Grünen, einen Hund und zwei Kinder. Sie wollen Treue und eine Torte zur Silberhochzeit.

Generation Porno? Dass, wer sich regelmäßig Hardcore anschaut, irgendwann glauben kann, Frauen seien nur Schlampen, sie hätten es gern brutal und Vorspiel seine eine Erfindung für Weicheier, ist keine große Überraschung. Nur: Auch umgekehrt wird ein Schuh draus, wie auch der Autor einräumt: "Jugendliche, für die Sex und Liebe nicht zwangsläufig aneinander gekoppelt sind, schauen eher Pornos. Das kann die Einstellung weiter festigen." Die Wahrheit ist ziemlich unspektakulär. Die meisten Mädchen und sogar ziemlich viele möchtegern-coole Jungen aber finden Hardcore ziemlich widerlich.

Also sucht der Journalist weiter nach der Generation Porno und findet sie nach eigener Wahrnehmung doch noch: in den Gefahren der modernen Technologie. Etwa im "Sexting" - dem Verschicken pornographischer Inhalte via Handy oder Mail, begrifflich angelehnt an "texting".

Emotionaler Schock

Er redet mit Rappern, die mit pornographischen Texten populär geworden sind, er beschreibt die seelischen Gefahren, den emotionalen Schock, wenn Hardcore über das Netz für Kinder allzu leicht zugänglich wird. Und wie wenig alle Versuche von Jugendschützern oder Betreibern von Internetseiten und Chatrooms taugen, diese Zugänge zu kontrollieren.

Er schildert, wie gefährlich es ist, wenn sich im Internet gut getarnte Verführer jungen, ahnungslosen Menschen widmen und wie widerwärtig es ist, wenn in aller Ahnungslosigkeit ins Netz gestellte eigene Nacktbilder oder gar Aufnahmen von Sexspielchen ein Leben lang durch das Netz geistern. Gernert hatte sich auf die Suche nach der übersexualisierten, deutschen Jugend gemacht; aber die "sexuelle Tragödie", die Siggelkow beschwört, findet er vor allem in den Weiten der virtuellen Welt.

Der Augsburger Bischof Walter Mixa hat sich kürzlich nicht entblödet zu behaupten, die "sexuelle Revolution" sei sicher "nicht unschuldig" daran, dass sexueller Missbrauch als gesellschaftliches Übel sich so ausgebreitet habe. Gernert geht beileibe nicht so weit; er macht sich in seiner - mit Hunderten Beispielen und Interviews gespickten und dadurch überfrachteten - Fleißarbeit vielmehr daran, die Auswüchse der sexuellen Revolution zu beschreiben, die kleinen und großen Perversionen. Aber eben auch ein großes Stück ewiger Normalität.

JOHANNES GERNERT: Generation Porno. Jugend, Sex, Internet. Fackelträger Verlag, Köln 2010. 280 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 18.3.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: