Jürgen Nendza: "Auffliegendes Gras":Angespülte Naherholung

Jürgen Nendza: "Auffliegendes Gras": Von Landschaften zu Folgelandschaften: Der Braunkohle Tagebau der RWE bei Inden im niederrheinischen Braunkohlerevier Inden.

Von Landschaften zu Folgelandschaften: Der Braunkohle Tagebau der RWE bei Inden im niederrheinischen Braunkohlerevier Inden.

(Foto: Robert Poorten/IMAGO)

Wie die Techniken des rheinischen Braunkohletagebaus in den Gedichten von Jürgen Nendza zu poetischen Verfahren werden.

Von Lothar Müller

Auf den ersten Blick sieht der "INDESCHE OZEAN" aus wie ein Druckfehler. Aber wenn der Lyriker Jürgen Nendza, geboren 1957 in Essen, ein Wort in Versalien setzt, ist es meist ein Fundstück aus der Wirklichkeit. So war es in seinem letzten Band "picknick" (2017), als er im Abschnitt "Kopfalbum" auf das Ruhrgebiet seiner Kindheit zurückblickte. Wenn der Schichtverlauf der Flöze in Richtung MONTAGSLOCH führte, kam das Montagsloch nicht vom Blaumachen, sondern bezeichnete die Stelle im Essener Grugapark, an der im März 1945 russische Zwangsarbeiter ermordet wurden. Und in den Zeilen "Episodisch, grugarot / fährt eine Tulpe FREIHEIT / ins Gedächtnis" war die Freiheit kein Allgemeinbegriff, sondern der längst abgelegte Name einer Straßenbahnhaltestelle.

Nendza lebt inzwischen in Aachen. Im neuen Band "Auffliegendes Gras" heißt der erste Gedichtzyklus "Abraum". Er ist eine überaus genaue poetische Vergegenwärtigung der verschwindenden Landschaften und Dörfer in den Gebieten des Rheinischen Braunkohletagebaus. Den "Indeschen Ozean" gibt es noch nicht, er soll als künstlicher See erst entstehen, in der Nähe der Gemeinde Inden im Kreis Düren. Aber zu ahnen ist er schon: "Du/ spürst Ufernähe, / angespülte / Naherholung".

Die "Rüttelverdichtung", sagt das Lexikon der Geowissenschaften, ist eine Maßnahme zur Erhöhung der Festigkeit des Bodens mittels horizontaler, maschinell erzeugter Schwingungen. Für Jürgen Nendza ist das Wort ein readymade, vorgefundenes Sprachmaterial aus den Regionen des Tagebaus. Er greift es nicht einfach auf, er fügt ihm Bedeutungsschichten hinzu. "Und Rüttelverdichtung, / die Böschung / abgeflacht in Folgelandschaft: // ein Kind am Fenster / puzzelt das Dorf / mit einer Kirche." Das ist, in Abbreviatur, die Textbewegung. Sie führt durch die Abraumwelten, hin zu den aus der Bergaufsicht entlassenen Landschaften, die "Folgelandschaften" heißen. Wer vom Ende des Abraum-Zyklus an den Anfang zurückkehrt, wird nicht mehr überlesen, dass in der Rüttelverdichtung die Dichtung steckt. Nendza hat aus dem Lexikonbegriff eine Chiffre für sein eigenes poetisches Verfahren gemacht.

Jürgen Nendza: "Auffliegendes Gras": "...hinter der Stirn, das Nachzittern...": Der Lyriker Jürgen Nendza.

"...hinter der Stirn, das Nachzittern...": Der Lyriker Jürgen Nendza.

(Foto: imago stock&people)

Bodenhaftung zeichnet diesen Dichter seit je aus, immer schon war er Wortfeldbesteller, der sich die Offenheit der deutschen Sprache für die Bildung von Komposita zunutze machte. Das kommt ihm auch hier zugute, wo "Löschwasser, Werksgelände, / gebundener Staub" den Blick anhalten lassen. "Bruchkante, dein Blick / rotiert, sucht Topografie. // und Kindesbeine noch: Resthäuserhorizont." So markiert ein neues Kompositum die Signatur verschwindender Ortschaften. Menschenleer sind sie in Zeiten der Migration nicht, noch intakte Häuser werden zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert: "Am Bordstein ein Junge / dreht Erde, dreht syrische Zeit / an einem Hinterrad / von BRUDER JOHN." Wieder die Signalwirkung der Versalien. Die deutsche Firma, die Fahrzeuge eines amerikanischen Landmaschinenherstellers im Spielzeugformat herstellt, heißt Bruder John.

"Und keine Festigkeit / der Oberfläche: Setzungsfließen / hinter der Stirn, das Nachzittern...". Können Böden fließen? Ja, wenn das Grundwasser ansteigt. Zuvor lassen sich auf ihnen "Lesefunde" machen, so nennen Archäologen nicht intendierte Grabungsfunde. Duschköpfe, Sprenkler gehören dazu, "Haarbürsten verfüllt mit / Staub: Kopfsouvenire." Am Ende wird Totenstille den Indeschen Ozean umgeben, aber zuvor hat der Zyklus "Abraum" eine ganze Landschaft in Schwingungen versetzt.

Jürgen Nendza: "Auffliegendes Gras": Jürgen Nendza: Auffliegendes Gras. Gedichte. Verlag Poetenladen, Leipzig 2022. 72 Seiten, 19 Euro.

Jürgen Nendza: Auffliegendes Gras. Gedichte. Verlag Poetenladen, Leipzig 2022. 72 Seiten, 19 Euro.

Im "Arboretum", dem zweiten Abschnitt des Bandes, sind Silberweide und Espe, Schwarz-Pappel und Weißbirke, Stieleiche und Rotbuche, Feldulme und Eberesche, Rosskastanie und Esche versammelt. Statuarisch wirken sie nicht. Sie sind von Zweizeilern umgeben, die ineinander übergehen, sparsam punktiert. Eher Komma oder kein Zeichen als ein Punkt, eher mal ein Doppelpunkt, der auf Fortsetzung aus ist. Die Verse zeichnen nicht die Umrisse, die Physiognomie der Bäume nach, als müssten sie ein Bestimmungsbuch illustrieren, sondern erkunden ihre Lebenswelt. So sieht die Weißbirke aus: "Eine Frühe steckt in diesem Pioniergehölz: /ausschweifend ist sie in der Beweglichkeit / von Ast und Blatt geschraubt, ins zottelnde / mähnige Zweigen: ein Fächeln in Erleichterung / gehängt und kronenhoch verjüngt / zu Lichtgenuss und Phantasie...".

Ein Langgedicht, aber nicht sehr lang, nur gut drei Druckseiten enthält der Abschnitt "Vor dem Nachtquartier". Es entfaltet eine Situation, den Blick eines Paares in den Himmel bei Abendlicht, die Schwelle zur Erzählung überschreitet es nicht. Eine Starenwolke fliegt vorbei, ein "Luftschiff aus Rauschen", das in der Wahrnehmung nicht aufgeht, sondern Gedankenflüge auslöst. Erst im letzten Abschnitt des Bandes, "Kretisches Gelände", taucht die Titelwendung auf. Es herrscht Windstille im Café Alyggos in der Mirabellobucht, als der Gast geht: "Du stehst auf. Spatzen stauben hoch, / Gedanken an auffliegendes Gras." Mag sein, es ist die Stunde des Pan. Denn es gibt bei Jürgen Nendza auch die diskrete Anwesenheit der Mythologie. Sie trägt dazu bei, dass sich dieser schmale, rüttelverdichtete Band nur schwer auslesen lässt.

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