Jürgen Habermas:"Keine Demokratie kann sich das leisten"

Medien, Märkte und Konsumenten: Der Philosoph Jürgen Habermas, 77, sorgt sich um die Zukunft der seriösen Zeitung. Ein Essay.

Auch wenn die Anzeigenkrise überwunden scheint, bleiben Zeitungen mächtigen Herausforderungen ausgesetzt: Sie kämpfen auf einem kleiner werdenden Markt und müssen sich in einem auf Unterhaltung getrimmten Medienumfeld als Informationsorgane behaupten. An die Stelle patriarchalischer Verleger rücken weltweit Finanzinvestoren, die einen anderen Blick auf die Rentabilität ihrer Unternehmen haben. Der Philosoph Jürgen Habermas, 77, sorgt sich um die Zukunft der seriösen Zeitung. Sein Fazit: "Keine Demokratie kann sich ein Marktversagen auf diesem Sektor leisten."

watergate

Der Watergate-Skandal ist ein Beispiel was seriöser Journalismus bewirken kann (hier eine Szene aus dem Film "Die Unbestechlichen").

(Foto: Foto: dpa)

Vor drei Wochen erschreckte die Wirtschaftsredaktion der Zeit ihre Leser mit der Überschrift "Kommt die Vierte Gewalt unter den Hammer?"Anlass ist die alarmierende Nachricht, dass die Süddeutsche Zeitung einem ungewissen ökonomischen Schicksal entgegensteuert. Die Mehrheit der Gesellschafter will sich von der Zeitung trennen.

Wenn es zu einer Auktion kommen sollte, könnte eine der beiden besten überregionalen Tageszeitungen der Bundesrepublik in die Hände von Finanzinvestoren, börsennotierten Konzernen oder großen Medienunternehmern fallen. Andere werden sagen: business as usual. Was ist alarmierend an dem Umstand, dass Eigentümer von ihrem guten Recht Gebrauch machen, Unternehmensanteile aus welchen Motiven auch immer zu veräußern?

Qualität zwischen Rationalisierung und Rendite

Die Zeitungskrise, die Anfang 2002 durch den Zusammenbruch des Anzeigenmarktes ausgelöst wurde, ist bei der Süddeutschen Zeitung wie bei ähnlichen Presseorganen inzwischen überwunden. Die verkaufswilligen Familien, die über 62,5 Prozent der Anteile verfügen, wählen einen günstigen Moment.

Trotz digitaler Konkurrenz und veränderter Lesegewohnheiten steigen die Gewinne. Vom aktuellen Wirtschaftsaufschwung abgesehen, resultieren diese in der Hauptsache aus Rationalisierungsmaßnahmen, die sich auf das Leistungsniveau und den Bewegungsspielraum der Redaktionen auswirken. Einschlägige Nachrichten aus der amerikanischen Zeitungsbranche belegen den Trend.

So hat der Boston Globe, eine der wenigen linksliberalen Zeitungen des Landes, alle Auslandskorrespondenten einsparen müssen, während die Schlachtschiffe der überregionalen Presse - wie die Washington Post oder die New York Times - die Übernahme durch Konzerne oder Fonds fürchten, die anspruchsvolle Medien mit unangemessenen Renditevorstellungen "sanieren" wollen; bei der Los Angeles Times ist die Übernahme bereits beschlossene Sache.

"Keine Demokratie kann sich das leisten"

In der vergangenen Woche legte die Zeit noch einmal nach und spricht von einem "Kampf von Finanzmanagern der Wall Street gegen die Presse der USA". Was steht hinter solchen Schlagzeilen? Offenbar die Befürchtung, dass die Märkte, auf denen sich nationale Zeitungsunternehmen heute behaupten müssen, nicht der doppelten Funktion gerecht werden, die die Qualitätspresse bisher erfüllt hat: die Nachfrage nach Information und Bildung hinreichend gewinnträchtig zu befriedigen.

Der bevormundete Leser?

Aber sind denn höhere Renditen nicht eine Bestätigung dafür, dass "gesund geschrumpfte" Zeitungsunternehmen die Wünsche ihrer Konsumenten besser befriedigen? Verschleiern vage Begriffe wie "professionell", "anspruchsvoll" und "seriös" nicht nur eine Bevormundung erwachsener Konsumenten, die wissen, was sie wollen? Darf die Presse unter dem Vorwand von "Qualität" die Wahlfreiheit ihrer Leser beschneiden? Darf sie ihnen spröde Berichte statt infotainment aufdrängen, sachliche Kommentare und umständliche Argumente statt entgegenkommender Inszenierungen von Ereignissen oder Personen zumuten?

Der in diesen Fragen unterstellte Einwand stützt sich auf die ohnehin kontroverse Annahme, dass Kunden nach eigenen Präferenzen selbständig entscheiden. Diese vergilbte Schulbuchweisheit ist im Hinblick auf den besonderen Charakter der Ware "kulturelle und politische Kommunikation" mit Sicherheit irreführend. Denn diese Ware stellt die Präferenzen ihrer Abnehmer zugleich auf den Prüfstand und transformiert sie.

Leser, Hörer und Zuschauer lassen sich, wenn sie die Medien nutzen, gewiss von verschiedenen Präferenzen leiten. Sie wollen sich unterhalten oder ablenken, über Themen und Vorgänge informieren oder an öffentlichen Diskussionen teilnehmen. Sobald sie sich aber auf kulturelle oder politische Programme einlassen, zum Beispiel den von Hegel gepriesenen "realistischen Morgensegen" der täglichen Zeitungslektüre empfangen, setzen sie sich - gewissermaßen auto-paternalistisch - einem Lernprozess mit unbestimmtem Ausgang aus.

Im Verlaufe einer Lektüre können sich neue Präferenzen, Überzeugungen und Wertorientierungen ausbilden. Die Metapräferenz, von der eine solche Lektüre gesteuert ist, richtet sich dann auf jene Vorzüge, die sich im professionellen Selbstverständnis eines unabhängigen Journalismus ausdrücken und das Ansehen der Qualitätspresse begründen.

TV als "Toaster"

An diesen Streit über den besonderen Charakter der Waren Bildung und Information erinnert der Slogan, der seinerzeit in den USA bei der Einführung des Fernsehens die Runde machte: Dieses Medium sei auch nur "ein Toaster mit Bildern". So meinte man, die Herstellung und den Konsum von Fernsehprogrammen getrost allein dem Markt überlassen zu können. Seitdem stellen Medienunternehmer für Zuschauer Programme her und verkaufen die Aufmerksamkeitsressourcen ihres Publikums an Auftraggeber von Werbeeinlagen.

"Keine Demokratie kann sich das leisten"

Dieses Organisationsprinzip hat, wo immer es flächendeckend eingeführt worden ist, politisch-kulturelle Flurschäden angerichtet. Unser "duales" Fernsehsystem ist der Versuch einer Schadensbegrenzung. In den Mediengesetzen der Bundesländer, den einschlägigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und den Programmgrundsätzen der öffentlich-rechtlichen Anstalten spiegelt sich jedenfalls die Auffassung, dass die elektronischen Massenmedien nicht nur die leichter kommerzialisierbaren Unterhaltungs- und Ablenkungsbedürfnisse von Konsumenten befriedigen sollen.

Hörer und Zuschauer sind nicht nur Konsumenten, also Marktteilnehmer, sondern zugleich Bürger mit einem Recht auf kulturelle Teilhabe, Beobachtung des politischen Geschehens und Beteiligung an der Meinungsbildung. Aufgrund dieses Rechtsanspruches dürfen die Programme, die eine entsprechende "Grundversorgung" der Bevölkerung sicherstellen, nicht von ihrer Werbewirksamkeit und der Unterstützung durch Sponsoren abhängig gemacht werden.

Leitmedium Qualitätspresse

Freilich dürften die politisch festgesetzten Gebühren, aus denen die Grundversorgung hierzulande finanziert wird, ebenso wenig von der Haushaltslage der Länder, also vom Auf und Ab der konjunkturellen Entwicklung abhängig gemacht werden. Dieses Argument machen die Rundfunkanstalten in einem vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren gegenüber den Länderregierungen zu Recht geltend.

Nun mag ein öffentlich-rechtliches Reservat für die Rolle der elektronischen Medien schön und gut sein. Aber kann das erforderlichenfalls ein Beispiel sein für die Organisationsform "seriöser" Zeitungen und Magazine wie die Süddeutsche oder die FAZ, Die Zeit oder den Spiegel - vielleicht sogar für anspruchsvolle Monatszeitschriften?

Ein Ergebnis kommunikationswissenschaftlicher Studien ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Die Qualitätspresse spielt mindestens im Bereich der politischen Kommunikation - also für die Leser als Staatsbürger - die Rolle von "Leitmedien". Auch Funk und Fernsehen und die übrige Presse sind nämlich in ihrer politischen Berichterstattung und Kommentierung weitgehend abhängig von den Themen und Beiträgen, die ihnen die "räsonnierende" Publizistik vorschießt.

Motor des öffentlichen Diskurses

Nehmen wir einmal an, dass einige dieser Redaktionen unter den Druck von Finanzinvestoren geraten, die auf schnelle Profite aus sind und in unangemessen kurzen Zeithorizonten planen. Wenn dann Umorganisation und Einsparung in diesem Kernbereich die gewohnten journalistischen Standards gefährden, wird die politische Öffentlichkeit im Mark getroffen.

Denn die öffentliche Kommunikation büßt ohne den Zufluss von Informationen, die sich aufwändiger Recherche verdanken, und ohne die Belebung durch Argumente, die auf einer nicht gerade kostenlosen Expertise beruhen, ihre diskursive Vitalität ein. Die Öffentlichkeit würde den populistischen Tendenzen keinen Widerstand mehr entgegensetzen und könnte die Funktion nicht mehr erfüllen, die sie im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats erfüllen müsste.

Wir leben in pluralistischen Gesellschaften. Das demokratische Entscheidungsverfahren kann über tiefe weltanschauliche Gegensätze hinweg nur solange eine legitimierende, alle Bürger überzeugende Bindungskraft entfalten, wie es der Kombination aus zwei Forderungen genügt. Es muss Inklusion, also die gleichberechtigte Beteiligung aller Bürger, mit der Bedingung eines mehr oder weniger diskursiv ausgetragenen Meinungsstreites verbinden.

"Keine Demokratie kann sich das leisten"

Denn erst deliberative Auseinandersetzungen begründen die Vermutung, dass das demokratische Verfahren auf lange Sicht mehr oder weniger vernünftige Ergebnisse ermöglicht. Die demokratische Meinungsbildung hat eine epistemische Dimension, weil es dabei auch um die Kritik falscher Behauptungen und Bewertungen geht. Daran ist eine diskursiv vitale Öffentlichkeit beteiligt.

Das kann man sich intuitiv an dem Unterschied klarmachen, der zwischen konkurrierenden "öffentlichen Meinungen" und der Veröffentlichung demoskopisch erfasster Meinungsverteilungen besteht. Die öffentlichen, durch Diskussion und Polemik erzeugten Meinungen, sind bei aller Dissonanz bereits durch einschlägige Informationen und Gründe gefiltert, während die Demoskopie gewissermaßen latente Meinungen in ihrem Roh- und Ruhezustand nur abruft.

Natürlich erlauben die wilden Kommunikationsflüsse einer von Massenmedien beherrschten Öffentlichkeit nicht die Art von geregelten Diskussionen oder gar Beratungen, wie sie in Gerichten oder parlamentarischen Ausschüssen stattfinden.

"Grundversorgung" der Demokratie

Das ist auch nicht nötig, weil die politische Öffentlichkeit nur ein Verbindungsglied darstellt. Sie vermittelt zwischen den institutionalisierten Diskursen und Verhandlungen in staatlichen Arenen auf der einen Seite, den episodischen und informellen Alltagsgesprächen potentieller Wähler auf der anderen Seite.

Die Öffentlichkeit leistet zur demokratischen Legitimation des staatlichen Handelns ihren Beitrag, indem sie politisch entscheidungsrelevante Gegenstände auswählt, zu Problemstellungen verarbeitet und zusammen mit mehr oder weniger informierten und begründeten Stellungnahmen zu konkurrierenden öffentlichen Meinungen bündelt.

Auf diese Weise entfaltet die öffentliche Kommunikation für die Meinungs- und Willensbildung der Bürger eine stimulierende und zugleich orientierende Kraft, während sie das politische System gleichzeitig zu Transparenz und Anpassung nötigt. Ohne die Impulse einer meinungsbildenden Presse, die zuverlässig informiert und sorgfältig kommentiert, kann die Öffentlichkeit diese Energie nicht mehr aufbringen. Wenn es um Gas, Elektrizität oder Wasser geht, ist der Staat verpflichtet, die Energieversorgung der Bevölkerung sicherzustellen.

Sollte er dazu nicht ebenso verpflichtet sein, wenn es um jene andere Art von "Energie" geht, ohne deren Zufluss Störungen auftreten, die den demokratischen Staat selbst beschädigen? Es ist kein "Systemfehler", wenn der Staat versucht, das öffentliche Gut der Qualitätspresse im Einzelfall zu schützen. Es ist nur eine pragmatische Frage, wie er das am besten erreicht.

Presse am Tropf des Staats?

Die hessische Landesregierung hat seinerzeit der Frankfurter Rundschau mit einem Kredit unter die Arme gegriffen - ohne Erfolg. Einmalige Subventionen sind nur ein Mittel. Andere Wege sind Stiftungsmodelle mit öffentlicher Beteiligung oder Steuervergünstigungen für Familieneigentum in dieser Branche. Keines dieser Experimente, die es andernorts schon gibt, ist ohne Folgeprobleme. Aber zunächst ist der Gedanke der Subventionierung von Zeitungen und Zeitschriften selber gewöhnungsbedürftig.

Aus historischer Sicht hat die Vorstellung, dem Markt der Presseerzeugnisse Zügel anzulegen, etwas Kontraintuitives. Der Markt hat einst die Bühne gebildet, auf der sich subversive Gedanken von staatlicher Unterdrückung emanzipieren konnten.

Aber der Markt kann diese Funktion nur solange erfüllen, wie die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht in die Poren der kulturellen und politischen Inhalte eindringen, die über den Markt verbreitet werden. Nach wie vor ist das an Adornos Kritik der Kulturindustrie der richtige Kern. Argwöhnische Beobachtung ist geboten, weil sich keine Demokratie ein Marktversagen auf diesem Sektor leisten kann.

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