Zum 90. Geburtstag von Jürgen Becker:Der riesige Rest

Lesezeit: 4 min

Jürgen Becker, geboren am 10. Juli 1932, vor seinem Haus in Odenthal in Nordrhein-Westfalen. (Foto: Marius Becker/picture alliance / dpa)

Der Hörspielmacher, Dichter und Büchnerpreisträger Jürgen Becker wird 90 Jahre alt. Neue und gesammelte Gedichte zeigen noch einmal, wie er mit scharfer Wahrnehmung die Welt zum Verschwinden bringt.

Von Nico Bleutge

Wo der Rhein das Rheinische Schiefergebirge verlässt, beginnt eine flache Ebene, die sich bis in die Niederlande hinein erstreckt. Es ist das Niederrheinische Tiefland, dessen südöstlicher Teil in die Kölner Bucht übergeht. Von den Hügeln des Bergischen Landes aus blickt Jürgen Becker bisweilen hinunter auf diese Ebene. Am Himmel, so hat er es 2009 in einem kleinen Text beschrieben, sind nicht nur gewaltige Wolkengebilde zu entdecken, sondern auch Figuren aus Dampf, die aus den Kühltürmen der Elektrizitätswerke, "aus den Schloten der aneinandergereihten Industrieanlagen" steigen. Darüber die Kondensstreifen der vielen Flugzeuge, die den Flughafen Köln Bonn ansteuern.

Die Wahrnehmung von Landschaft, des von Zivilisation bestimmten Geländes, durchzieht Jürgen Beckers Schreiben von Beginn an. Nicht von ungefähr tragen schon seine ersten Bücher, allesamt in den Sechzigerjahren entstanden, Titel wie "Felder" oder "Umgebungen". In einem der fragmenthaften Texte der "Felder" hat Becker seinen Blickpunkt auf die Kölner Bucht topografisch genau zu bestimmen versucht. Doch die gleichzeitig einströmenden Eindrücke machen jede Fixierung unmöglich. Schnee auf den Hügeln, plötzlich der Geschmack von Tee und Honig, das Geräusch einer Schreibmaschine, dazu die aufblitzenden Erinnerungen: "Das Wahrnehmen allen Geschehens, des gegenwärtigen wie des vergangenen, bringt jeden festen Ort (...) zum Verschwinden."

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Doch auch wenn sich am Ende die Vorstellung eines festen Ortes auflöst, ist es die Wahrnehmung der gestaffelten Landschaft, die Becker zum Bild für sein collageartiges Schreiben wird. Denn aus der Höhe gesehen, hat die Landschaft selbst die Gestalt einer Collage, wie er fast 50 Jahre später notiert: "In ihren Gegensätzen, im Nebeneinander und Ineinander von Bestandteilen, die zwischen den Ausläufern der großen Städte einen widersprüchlichen Zusammenhang bilden, alte Dorfreste und neue Ballungsräume, Ackerflächen und Betonpisten, Waldgebiete und Hochhausgruppen, Bergbauhalden, Baggerseen, Flussverläufe, Gemüseplantagen und Gewerbeflächen".

"Stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof."

Obwohl er eigentlich gar nicht gern reise, hat Becker angemerkt, sei er abhängig von den Orten und Gegenden, in denen er sich befinde, er spüre dann, "hier ist etwas, das mich bewegt, das meine innere Stimme zum Sprechen bringt." Und von diesen Orten gibt es nicht wenige. 1932 kommt Jürgen Becker in Köln zur Welt. Als der Krieg beginnt, wird der Vater nach Erfurt versetzt. Es ist keine glückliche Zeit für die Familie, die Eltern trennen sich, dann stirbt die Mutter. 1947 kehrt Becker mit seinem Vater in den Westen zurück. Nach verschiedenen abgebrochenen Studien arbeitet er als Werbeassistent und als Lektor in Verlagen. Anfang der Siebzigerjahre hält er sich für längere Zeit in Berlin und New York auf, bevor er, für ganze 20 Jahre, die Hörspielabteilung des Deutschlandfunks leitet. Das Schreiben läuft immer nebenher.

Die Wende und die ersten Jahre danach hat Becker oft als entscheidenden Einschnitt in seiner Biografie beschrieben. Endlich konnte er die Orte und Landschaften seiner Kindheit wieder besuchen. Damals formte sich vollends seine Vorstellung aus, Schreiben sei ein Entdeckungsvorgang. Eine solche Menge an Stoff hatte sich auf seinen Besuchen und Recherchereisen angehäuft, dass neue literarische Möglichkeiten jenseits der immer gegenwärtigen Gedichte erprobt sein wollten, vornehmlich Romane.

Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte 1971-2022. Suhrkamp, Berlin 2022. 1120 Seiten, 78 Euro. (Foto: N/A)

So ist Becker über die Jahre ein Schriftsteller geworden, der mit demselben literarischen Atem ein siebzigseitiges "Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft" schreiben konnte (1988 erschienen!) wie ein schimmerndes Prosabuch namens "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999). In diesem Roman fährt Jörn, der Erzähler, in den Dörfern zwischen Thüringen und der Ostsee hin und her. Mal fühlt er sich fast wie zu Hause, mal bemerkt er einen Nebel zwischen sich und den anderen Menschen, eine "Zone der Fremdheit, die von der Geschichte zurückgelassen worden ist".

Osten und Westen, Augenblick und Erinnerung, Landschaft und Bewusstsein, Denken und Fühlen - solche vermeintlich polaren Ideen durchdringen sich bei Becker auf eigentümliche Art und Weise. "Stell dir jetzt vor", beginnt ein kleiner Text aus seinem Prosabuch "Erzählen bis Ostende" (1981), "stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof." Tatsächlich ist es diese Verbindung von Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination, aus der Beckers Schreiben seine ganze Kraft gewinnt.

Dabei zählt jeder Augenblick. Und die Assoziation, deren "Geschiebe" vom einen zum anderen führt. So ist Jürgen Beckers Schreiben von Anfang an als Mitschrift angelegt, als Journal, wie er es selber nennt, das noch den unscheinbarsten Einfall festhält. Den Impuls kann ein Bild an der Wand setzen, das Geräusch eines Autos in der Nacht, das Spielen am Radioknopf. Zugleich schießen historische Reste ein, Erinnerungen an Bombennächte, an Hunger, manchmal nur an einen einzelnen Handwagen, den der Sprecher hinter sich herzieht. Aber auch Stimmen aus dem Fernseher, dem Internet, Zitate anderer Schreibender.

Jürgen Becker: Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte. Suhrkamp, Berlin 2022. 76 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Einiges davon kann man sich jetzt noch einmal kompakt in dem Band "Gesammelte Gedichte" ansehen, den der Suhrkamp Verlag seinem mit dem Büchnerpreis gekrönten Autor zum 90. Geburtstag schenkt. Aber pünktlich zum Jubeltag ist auch ein neues Gedichtbuch erschienen. Darin zeigt Becker wieder, wie genau er mit den Momenten und Assoziationen verfährt. Die Augenblicksbilder stehen nie für sich, sondern sind stets in Kontexte eingebettet, "wie in Gestrüpp" manchmal, die es im Schreiben zu entdecken gilt.

Beckers wichtigstes Verfahren ist eine raffinierte Schnitttechnik, die alle Momente in eine Atmosphäre der Präsenz überführt, und die er hier mitunter eigens mit fast comicartigen Einsprengseln wie "Schnitt" oder "plopp" markiert. Dazu gibt es eine neue Vorliebe für listenartige Gedichte, die das Gefüge der Assoziationen noch offener machen. Und die in Schlagwörtern wie "Paris Bar", "Gruppe 47" oder "Höllerers Zirkus" Stationen von Beckers Lebensgeschichte aufrufen, die zugleich charakteristisch für die BRD jener Zeit und für den westdeutschen Literaturbetrieb sind.

Jedes Material, jedes Motiv hinterlässt etwas Verborgenes, meint Jürgen Becker, "einen riesigen Rest von nichterzählter Geschichte, verlorener Erinnerung". Auch das neue Buch endet mit einem solchen Rest. Und so kann man sich nur freuen auf all die Erkundungen der inneren und äußeren Landschaften, die noch folgen werden.

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