Ein Kinderstuhl ist es, der einen am Ende besonders berührt. Zu sehen ist er in der neu konzipierten, eigentlich muss man sagen: fulminant neu erfundenen Dauerausstellung im überzeugend kongenial erweiterten Jüdischen Museum Frankfurt. Der Neubau, der Entwurf stammt von Volker Staab, und die erneuerte Dauerausstellung im direkt daneben befindlichen, sanierten Rothschild-Palais werden am Mittwoch eröffnet. Es ist eine Wiedergeburt des ersten Jüdischen Museums in kommunaler Verantwortung hierzulande. Es stammt aus dem Jahr 1988.
Der Kinderstuhl ist der Stuhl von Anne Frank, die Anfang 1945 im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Wenn man einem solchen Stühlchen nicht als Exponat in einem Museum begegnet, sondern zum Beispiel im eigenen Keller der Erinnerung, wird man daran gemahnt, wie absolut glaubhaft und wie tatsächlich bodenlos die Zuversicht von Kindern in das Reich der Erwachsenen sein kann.
Das Kinderstühlchen von Anne Frank: Ein Moment der Berührung
Kinderstühle sind im Normalfall Abbild von etwas, was wachsen darf, soll, muss. In besonderer Weise gilt dies für das mit rosa Samt bezogene Stühlchen aus dunkel patiniertem, ornamental reich geschmückten Holz, auf dem Anne Frank saß, wenn ihr bei Oma Alice vorgelesen wurde aus Kinderbüchern. Aus Büchern, die die Wahrheit über Bergen-Belsen nicht kannten. Es ist die Aufgabe von Kinderbüchern und Kinderstühlchen, Horte der Zuversicht zu sein.
Neuanfang im Jüdischen Museum Berlin:Schönheit, Sprache, Täuschung, Mord
Die Dauerausstellung im JMB zeigt famos ein Jahrtausend jüdisches Leben auf deutschem Grund. Besser konnte man es nicht machen.
Die Bild-Zeitung, die auch schon im erweiterten Jüdischen Museum in Frankfurt am Main war, spricht von einem "Hingucker". Falsch ist das nicht. Hinfühler und Hindenker ist sogar richtiger. Und Hinwender: Das ist der Anne-Frank-Stuhl auch. Das Stühlchen, das Samt und Massenmord, Kinderfantasie und Realwelt, Oma und Nazis symbolisiert, markiert fast das Ende der sich auf drei Etagen in historischen Räumen anregend entfaltenden Ausstellung. Es gehört zu der 1 300 Objekte umfassenden Frank-Sammlung. Die wiederum Teil der gesamten Ausstellung ist.
Die Ausstellung beginnt oben als Erzählung über die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Frankfurt, das ein Zentrum jüdischen Lebens in Europa war und heute wieder ist. Und sie endet, "Geschichte und Gegenwart", "Tradition und Ritual", "Familie und Alltag" sind als Themenebenen bei aller Komplexität leichtfüßig durchschritten, unten am neu geschaffenen, öffentlich zugänglich formulierten Bertha-Pappenheim-Platz 1 zu ebener Erde. Also nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, wo die Frauenrechtlerin und Gründerin des Jüdischen Frauenbundes Bertha Pappenheim die Tristesse in den neongrell verdüsterten Laufhäusern trostspendend aufsuchen könnte.
Man kann aber auch am Main spazieren gehen und das Leben sogar am Corona-Hotspot Frankfurt umarmen. Beides ist hier in unmittelbarer Nachbarschaft zu erleben. Das Leben ist vielgestaltig. Ebenso multiperspektivisch ist die ungemein facettenreich organisierte, immer persönlich inszenierte, von Menschen und vom Alltag erzählende Schau. Sie findet immer wieder aus dem "Es war einmal" in das Präsens nicht des Raunens, sondern des vergegenwärtigenden Begreifens. Wer sich nach dieser kenntnisreichen, informativen und anschaulichen Ausstellung nicht öffnet für eine Erzählung, die nicht allein ein Narrativ der Schoah ist, sondern auch eine Geschichte vom Glück und vom Glücken, nicht allein vom "die", sondern vom "wir", dem ist kaum zu helfen.
Dass genau das, nämlich ein Ort der Zuversicht, der gesellschaftlichen und interreligiösen Offenheit und der Begegnung zu sein, einem Museum gelingt, das ja immer auch vom Horror der Vergangenheit, von Hass, Verbrechen, Verfolgung und Ermordung, erzählen muss, ist das vielleicht größte Kompliment, das man dem neuen Jüdischen Museum in Frankfurt machen kann. Es gilt auch der vitalen Jüdischen Gemeinde dort. Entstanden beziehungsweise rekonfiguriert wurde ein Ort, der entschlossen "jetzt" sagt und auf das Morgen zielt. Es ist eine Stätte, die Hoffnung macht. Ein Jahr nach dem Attentat von Halle und inmitten des wieder erstarkenden Antisemitismus in Deutschland ist diese Offenheit einfach das Richtige am richtigen Ort zur richtigen Zeit.
Zu verdanken ist das auch Mirjam Wenzel, die seit 2016 Direktorin eines Museums ist, das sie nun zur Bühne umgebaut hat. "Say gesunt" steht auf ihrer navyblauen Maske. Das ist jiddisch und heißt pandemisch gestimmt "bleib gesund". Schöner noch, es heißt auch: mach's gut, bis später, man sieht sich. Dieses "say" ist empathisch und ernsthaft, aber auch lässig, freundlich, kommunikativ, unterhaltsam. Ein Museum, welches all das auch ist, ist ein gutes Museum, weil das Museale darin weniger wichtig ist als die Möglichkeit, darin herumwandernd auch sich selbst zu begegnen. Das ermöglicht das neue Jüdische Museum Frankfurts mit seiner großartigen Dauerausstellung.
In Frankfurt, direkt am Main und im Zentrum von Kultur und Geld, wurde erst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Jüdische Museum gegründet. Es besitzt eine der ältesten Sammlungen jüdischer Kulturgüter und Geschichtszeugnisse in Deutschland und umfasst zwei Häuser an zwei historischen Orten. Die jüdische Gemeinschaft gehörte in Frankfurt zu den Schrittmachern auf dem Weg in die Moderne. Die Ausstellung berichtet von diesem Aufbruch, für den man noch heute dankbar ist.
Der Tresor der Bankiers sieht aus wie eine solide gebaute Sockenkommode
Zwei historische Orte: Da ist einmal das Museum Judengasse, wo die Frühe Neuzeit in den Überresten des ersten jüdischen Ghettos Europas thematisiert wird; zum anderen aber gibt es das Rothschild-Palais, eigentlich die beiden zum Palais verschmolzenen Häuser Untermainkai 14 und 15, in denen eine Dauerausstellung die Zeit zwischen Aufklärung und Gegenwart im jüdischen Leben Frankfurts und weit darüber hinaus auslotet.
Übrigens steht im Rothschild-Palais auch der frühere Tresor der Bankiers (der aussieht wie eine solide gebaute Sockenkommode), die auch Kulturmenschen und Menschenfreunde waren, was von den aktuellen Bankgewaltigen nicht immer so deutlich zu sagen ist. Der Tresor ist, das begegnet einem oft in diesem Museum, mit einem spielerischen, jugendfreundlichen und zugreifend didaktischen Element verbunden. Man soll den passenden Schlüssel entdecken. Überhaupt macht sich die Ausstellung, die ja auch schon vor der Umgestaltung über eine stattliche Sammlung verfügte, viele Gedanken über das zeitgemäße Vermitteln des Wissens. Es gelingt.
Zu den Höhepunkten der Ausstellung gehören die kunstsinnig-großbürgerlichen Sammlungen der Familien Frank und Rothschild, dazu Kunstwerke von Moritz Daniel Oppenheim. Er war der erste jüdische Maler (1800-1882), der eine "akademische" Ausbildung erhielt. Sein faszinierend religiös-literarisch-historisches Bildwerk, würde heute - man kann das mit Blick auf den jugendlich erleuchtet wirkenden "Moses mit den Gesetzestafeln" (1817/18) durchaus sagen - auch in die popphänomenale Instagramära des Surrealen passen. Oppenheim ist ein Trakt im behutsam sanierten, von manchem Neo-Rokoko-Spinngewebe befreiten Palais gewidmet.
Das Gebäude kommt ohne allzu explizite Symbolik aus
Auch die Sanierungsarbeiten sind Leistungen des Berliner Büros Staab Architekten. Es hatte sich in einem Wettbewerb durchgesetzt: vor allem mit einem Bau, der dem Palais hofausbildend zur Seite steht und mit kubischer Klarheit außen, im lichtdurchfluteten Inneren aber mit dem warmen Holz der Esche eine einladende Geste formt. Zum Main hin erinnert nur noch etwas Stuck an den früheren Zugang.
Dass das Museum, dessen Neubau Funktionsbereiche, aber auch Räume für Wechselausstellungen (aktuell besuchenswert: "Die weibliche Seite Gottes"), Veranstaltungen, Bibliothek und Cafeteria aufnimmt, ein so offener, aber dennoch gesicherter Ort werden konnte, ist dem Geschick der Architekten zu danken.
Sie nutzen die Topografie des ehemaligen Gartens, erweitern den Grünzug zur Stadt hin und formulieren zugleich ein Haus der Zugänglichkeit, das aber dennoch etwas Bergend-Beschütztes ausstrahlt. Eine Trutzburg ist es nicht. Vor allem aber: Anders als etwa das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind kommt das Gebäude ohne allzu explizite Symbolik aus. Die Symbiose aus Tradition und gegenwärtiger Baukunst ist beeindruckend gelungen. "Das Narrativ", sagt Volker Staab dem Reporter am Telefon, "soll nicht das Haus sein. Das Museum selbst ist es, das Geschichten erzählt. Das Haus dazu ist der Ort zum Geschichtenerzählen." Und so landet man wieder beim Stühlchen. Man hört nicht auf, der Kraft der Geschichten zu vertrauen.