Süddeutsche Zeitung

Museums-Debatte:Warum in jüdischen Museen gerade vehement gestritten wird

Ob in Warschau, New York oder Berlin: Über Institutionen, die sich mit jüdischer Geschichte befassen, wird hitzig debattiert. Dabei geht es auch um die Frage, was jüdisch ist.

Gastbeitrag von Mirjam Wenzel

Jüdische Museen treffen den gereizten Nerv unserer Zeit. Nicht zuletzt deshalb sind sie gerade in aller Munde. Sie haben auch weltweit Konjunktur: In São Paulo wird ein jüdisches Museum aufgebaut, in Ferrara das "Nationale Museum für das italienische Judentum und die Schoah" in Betrieb genommen, im litauischen Šeduva der Grundstein für ein groß angelegtes "Lost Shtetl Museum" gelegt und in Stockholm die permanente Ausstellung wiedereröffnet.

Die meisten dieser Museen sind keine jüdischen Einrichtungen, sondern werden von öffentlicher Hand oder mit privaten Mitteln finanziert. Sie haben den genuin politischen Auftrag, eine subjektive Perspektive auf Geschichte zu entwickeln und mit Walter Benjamins "Engel der Geschichte" auf die Ermordeten und die historischen Trümmer zu blicken. Zugleich werden diese Museen von der sich diversifizierenden Öffentlichkeit mit der Erwartung konfrontiert, klaren Identitätsvorstellungen zu entsprechen und die Zunahme von verbaler und tätlicher Gewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten zu thematisieren, insbesondere den grassierenden Antisemitismus. Zwischen dem politischen Auftrag, dem notwendigen Vertrauen von Seiten der Geldgeber und den partikularen Wünschen öffnet sich eine Kluft, die mehrere jüdische Museen derzeit vor eine Zerreißprobe stellt.

Im Februar entzog der polnische Kulturminister Piotr Gliński dem Direktor des POLIN-Museums für die Geschichte der polnischen Juden das Vertrauen und ließ dessen Vertrag auslaufen. Diese Entscheidung stand im Gegensatz zur Erfolgsbilanz des renommierten Historikers Dariusz Stola, unter dessen Leitung sich das größte jüdische Museum Europas zu einer Plattform für wissenschaftliche Forschung, innovative Ausstellungspraxis und digitales Engagement entwickelt hatte. Stola nahm es auf sich, sich erneut für seine Stelle zu bewerben. Mitte Mai konnte er das Bewerbungsverfahren für sich entscheiden. Das polnische Kulturministerium zögert seine Wiedereinstellung seither hinaus. Dies führte das Museum in eine Krise, die einer anderen Einrichtung zuspielt: Im November 2017 initiierten der polnische Premier und sein Kulturminister ein zweites Museum, das sich ausschließlich dem Warschauer Ghetto-Aufstand und der Schoah widmen soll. Es macht POLIN auch örtlich das Terrain streitig.

Für die Einladung des Nahostkonflikts ins Museum zahlt man einen hohen Preis

Auch am Jüdischen Museum Berlin ist spätestens seit dem Rücktritt des renommierten Judaisten und umstrittenen Museumsdirektors Peter Schäfer die Unsicherheit groß. Im Unterschied zum polnischen Fall wird diese Krise weltweit kommentiert. Einen bemerkenswert großen Raum nimmt dabei die Frage ein, inwieweit das Museum israelkritischen, ja, -feindlichen Positionen und Personen eine Stimme verliehen hat. Diese Frage widerspricht der Programmatik, die das Jüdische Museum Berlin jahrelang verfolgte: Anstatt sich der historischen Idee und politischen Realität der "Einsammlung der Exile" im Staat Israel zuzuwenden, verstand es sich dezidiert als eine Plattform für jüdisches Leben in der Diaspora.

Dieser aus der griechischen Bibelübersetzung stammende Begriff bezeichnete ursprünglich die "Verstreuung" der einstigen Bewohnerinnen und Bewohner Judäas nach dem Untergang ihres Königreichs. Heute steht der Diaspora-Begriff gemeinhin für jene Migrantinnen und Migranten, die sich in ihrem kulturellen Selbstverständnis auf ihr Herkunftsland beziehen. Unter der programmatischen Leitung von Cilly Kugelmann entwickelte das Museum in Berlin-Kreuzberg eine Reihe von bedeutenden Ausstellungen wie etwa "Koscher & Co: Über Essen und Religion" (2009/10), "Haut ab: Haltungen zur rituellen Beschneidung" (2014/15) und "Golem" (2016/17) zur jüdischen Diaspora in Deutschland und Europa.

Diese Ausstellungen umkreisten die Frage, wie es Jüdinnen und Juden gelingen konnte, über knapp zwei Jahrtausende hinweg eigene Traditionen aufrechtzuerhalten und eine Kultur zu entwickeln, die sich von der ihrer Umgebung unterschied. Es ist anzunehmen, dass diese Frage auch bei der Idee eine gewisse Rolle spielte, eine Ausstellung über Jerusalem zu entwickeln, weil die Stadt zentraler Bezugspunkt der jüdischen Religionspraxis in der Diaspora ist. Anstelle des imaginären Orts aber betrat das Museum mit "Welcome to Jerusalem" das umkämpfte Territorium der heutigen israelischen Hauptstadt selbst. Es hat für die Einladung des Nahostkonflikts ins eigene Haus einen hohen Preis gezahlt.

Die Debatte um das Jüdische Museum Berlin war und ist von Differenzen zwischen den Erwartungen vieler Jüdinnen und Juden an das zentrale jüdische Museum in Deutschland und dessen Selbstverständnis und musealer Praxis geprägt. Diese Differenz kennzeichnet auch die Diskussion, die derzeit in den USA über die neue Dauerausstellung des Jewish Museum New York geführt wird. Als "Scenes from the Collection" präsentiert dieses Museum seit eineinhalb Jahren seine Sammlung an zeitgenössischen Kunstwerken sowie kunsthandwerklichen und zeremoniellen Gegenständen in einer Anordnung, die weniger der jüdischen Ideengeschichte als vielmehr den Begriffen des zeitgenössischen Kunstdiskurses folgt. Kritiker dieses Konzepts fordern lautstark, dass ein jüdisches Museum in erster Linie jüdische Identitätsfragen thematisieren solle, und werfen dem New Yorker Museum eine latente Traditionsfeindlichkeit vor.

Wie soll man sich zur Zunahme identitären Denkens und zum Antisemitismus verhalten?

Die Frontstellung zwischen Museumsmacherinnen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Jüdischen Studien auf der einen und jüdischen Publizisten, Organisationen und Gemeinden auf der anderen Seite gibt es also nicht allein in der Debatte um das Jüdische Museum Berlin. Auch andernorts wird in ähnlichen Konstellationen vehement gestritten. Im Zentrum steht dabei die Frage, was jüdisch sei. Dass aber ebendiese Frage von den großen jüdischen Museen in Europa und den USA immer wieder offengelassen wird, hängt nicht etwa damit zusammen, dass in ihnen nicht-jüdische oder gar israelfeindliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Sagen hätten, sondern mit der jüdischen Diaspora-Geschichte - zumal in Deutschland - selbst. Soll ein jüdisches Museum Heinrich Heine, Ludwig Börne, Jacques Offenbach oder gar Felix Mendelssohn-Bartholdy als Juden porträtieren, auch wenn sie die jüdische Tradition bewusst verließen? Soll es, im umgekehrten Fall, den vielen Menschen, die ausschließlich einen jüdischen Vater haben, sich entgegen dem Religionsgesetz als jüdisch verstehen und in den Ländern des Warschauer Pakts auch so bezeichnet wurden, eine Stimme als Jüdinnen und Juden verleihen? Was hat die Geschichte der Diaspora mit anderen Exilen gemein, was unterscheidet sie von den Migrationsbewegungen unserer Zeit? Wie kann Judentum sowohl als moderne Religion wie auch als eine Form der Lebensgestaltung und zudem als ein partikulares Gedächtnis dargestellt werden?

Diese und andere Fragen sollten die jüdische Museen heute stellen und allenfalls in einer Hinsicht beantworten - nämlich im Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft vor Ort. Ihre zunehmende Relevanz hängt nicht nur mit der Diversität der Gesellschaft, sondern auch mit der Zunahme identitären Denkens zusammen. Der Antisemitismus, der nicht nur von den politischen Umbrüchen unserer Zeit, sondern auch von diesem Denken beflügelt wird, stellt unterdessen alle jüdischen Museen weltweit vor die Aufgabe, das tradierte Feld musealer Praxis zu verlassen und sich für das Fortbestehen von offenen Gesellschaften einzusetzen, die Jüdinnen und Juden ein sicheres und selbstbestimmtes Leben in der Diaspora ermöglichen.

Mirjam Wenzel ist Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt und Honorarprofessorin am Institut für Judaistik der dortigen Goethe-Universität.

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Quelle:
SZ vom 19.07.2019/luch/cat
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