Judith Kuckart: "Café der Unsichtbaren:In sechs Jahren bin ich Papst

Judith Kuckart: "Café der Unsichtbaren: Wer sind eigentlich die Leute am anderen Ende der Leitung, wenn man bei der Telefonseelsorge anruft? Judith Kuckart erzählt von ihnen.

Wer sind eigentlich die Leute am anderen Ende der Leitung, wenn man bei der Telefonseelsorge anruft? Judith Kuckart erzählt von ihnen.

(Foto: unsplash)

Wie bekommt man so viele einsame Herzen wie möglich in einen Roman? Man erzählt vom Beraterteam eines Sorgentelefons wie Judith Kuckart in ihrem Roman "Café der Unsichtbaren".

Von Rudolf von Bitter

Im zweiten Stock eines Berliner Hinterhauses befinden sich die Räumlichkeiten von "Sorgentelefon e.V.", einer ehrenamtlichen kostenfreien Ratgeber-Institution ohne kirchlichen Hintergrund. Wer hier als Seelenberater tätig werden will, bekommt von einem Ausbilder die Grundlagen erklärt, zum Beispiel die Nächte: "Leute: Es gibt nichts, warum die Menschen nicht anrufen!" Dazu ein paar Fertigsätze, mit denen man kollisionsfrei ein Gespräch beenden kann.

Zentrales Element der Ausbildung und später der Betriebskommunikation ist der Stuhlkreis, wo sich die Telefonratgeber versammeln und ihre Erfahrungen austauschen. Mehr braucht es offenbar nicht, um mit Depressiven und Gesprächsbedürftigen angemessen umzugehen. Tatsächlich sind es weniger Selbstmordgefährdete und Sorgenvolle als vielmehr Aufsässige und Größenwahnsinnige, die hier anrufen. Einer verkündet: "In sechs Jahren bin ich Papst, und Sie werden sich dann genau an dieses Gespräch hier erinnern".

Unter den Beratern hat einzig Rieke als Studentin der Theologie eine explizit kirchliche Anbindung. Sie will hier schon mal üben für kommende Gemeindearbeit. Die anderen Mitglieder der Sorgentelefon-Belegschaft fühlen sich durch ihre eigenen Probleme dazu qualifiziert, mitreden zu können, wenn jemand anders Kummer hat. Ein idealer Ort also, um unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen zu lassen, nicht nur Ratsuchende.

Kann man die identische Situation noch einmal durchleben, mit ganz anderen Gefühlen?

In Judith Kuckarts Roman "Café der Unsichtbaren" finden die Berater ihrerseits Anschluss: Menschen, die ihre soziale Anbindung verloren haben, ganz unabhängig von den Vermögensverhältnissen. So fährt Emilia, die eigentlich "lieber was mit Katzen und Kindern gemacht hätte statt mit Geld", einen teuren Dienstwagen, Dr. Lorentz ist ein pensionierter Rundfunkredakteur aus dem Saarland, der sich in der Berliner Karl-Marx-Allee eine Wohnung gekauft hat, Marianne, kaufmännische Sachbearbeiterin, hat den Kontakt zu ihrer Tochter verloren. Nur Matthias führt eine prekäre Existenz als Hausmeister, der eigentlich Schauspieler sein möchte.

Mit Abstand die Älteste ist Frau von Schrey, die früher schon einmal Telefonseelsorge gemacht hat, deren Mann zu Zeiten von Baader-Meinhof in West-Berlin als Terrorismusverdächtiger von der Polizei erschossen wurde, und die ihre "freiwillige Ehrenrunde im Stuhlkreis" mit ihrer Vorliebe für "roten Tee und Schnittchen mit Gurkengarnitur" begründet. Der ironisch trockene Unterton verbindet sich mit einer Haltung, in der sie ihren Vorsprung an Lebenserfahrung nicht als Überlegenheit ausspielt, sondern Ausgangspunkt sein lässt für eine philosophische Frage: Ist das Erinnerte tatsächlich vergangen oder dauert es an?

Dass Matthias und Emilia, und dass Rieke und Arian, der junge Mann vom Vorderhaus, zueinander finden, was sie alle vier vom Alleinsein befreit, und dass Marianne und Dr. Lorentz sich selbst im Wege stehen, sind schöne und schön erzählte Liebesgeschichten. Doch mindestens so viel Bedeutung misst die Autorin dem Thema des gelebten und noch verbleibenden Lebens bei, den Fragen nach der Vergangenheit und deren Endgültigkeit, den Verschiebungen in der Erinnerung, den Chancen, identische Situationen ein zweites Mal zu durchleben und sie dabei anders, mit neuen Gefühlen, zu bewältigen.

Judith Kuckart: "Café der Unsichtbaren: Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren. Roman. Dumont, Köln 2022. 208 Seiten, 23 Euro.

Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren. Roman. Dumont, Köln 2022. 208 Seiten, 23 Euro.

Frau von Schrey, die weitgehend den Part einer Erzählstimme übernommen hat, geht mit dieser Frage nicht nur souverän um und lässt es zu, dass Erinnertes und Mögliches ineinanderfließen. Sie schafft ihrerseits mögliche Realitäten, indem sie ihren Kollegen und den Telefonanrufern unterstellt, was sie durchlebt haben oder noch erleben werden: "Dr. Lorentz wird möglicherweise Hemden bügeln - stellte ich mir mit Blick auf seinen Stuhl vor - und dabei aus dem Fenster in eine Häuserflucht schauen. An deren Ende zeichnet sich elegant, kühl und scharf die Kulisse eines neuen Berlins ab. Wie in Shanghai, wird er einen Vergleich suchen, weil er schon mal in Shanghai war. Kurz vor Mitternacht aber wird er glauben, in Chicago zu sein. Denn auch dort war er schon. Was solche abstrakten Formen, die Häuser in der Dunkelheit annahmen, doch mit einem wie Lorentz machten."

Auch für Rieke ist das Leben durchsetzt von Indizien, die auf etwas hinweisen, das nicht mit der Gegenwart zu tun hat. Dabei lässt ihre Ernsthaftigkeit eine Form von Komik entstehen, wie man sie von den Bildern Bernd Pfarrs kennt: "Mit dem Winken war das so eine Sache. Seit dem Tod von Nachbar Horst vermutete Rieke bei jedem harmlosen Winken, es könnte tödlich ausgehen. So war es jedenfalls mit Nachbar Horst im vergangenen Winter gewesen. Auf bald, hatte er mit Tüte im Arm vor dem Gemüsegeschäft gerufen. Sie hatte die Hand gehoben, und er winkte zurück. ... Die Gemüsetüte aus Horsts Kühlschrank war tags drauf in Riekes gelandet. Eine Nachbarin hatte sie vorbeigebracht. Horsts Vermächtnis, sagte Rieke sich."

Das Absurde der Sorgentelefonanrufer, Riekes tragikomische Ernsthaftigkeit und von Schreys Fantasien über das Leben der anderen schaffen eine harmlose Komik, in die Judith Kuckart die philosophische Erkenntnis verpackt hat, dass man niemals in denselben Fluss steigen könne, und wenn es auch derselbe ist - mit dem optimistischen Zusatz, dass darin eine Chance steckt. Im Nachspann deutet sie an, dass sie das alles auch anders hätte erzählen können. Man kann sich nur freuen, dass sie es so gemacht hat, wie es vorliegt. Es macht nämlich Spaß.

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