Zum Tod von Judith Kerr:Als Hitler den kleinen Seehund stahl

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Sie war Flüchtling, Weltbestsellerautorin, Illustratorin und überzeugte Europäerin: Die große Schriftstellerin Judith Kerr ist gestorben.

Von Lothar Müller

Als Judith Kerr zum letzten Mal in Berlin auftrat, im Sommer 2016 beim Internationalen Literaturfestival, sagte sie vor Hunderten Kindern einen seltsamen Satz: "Es ist herrlich, Flüchtling zu sein." Es sei, sagte sie, ermutigend, in ein neues Land zu kommen und nichts zu verstehen, ein Jahr später aber schon die Sprache zu sprechen. Als ihre Familie 1933 aus Berlin vor den Nationalsozialisten floh, war sie knapp zehn Jahre alt. Sie war eine erwachsene Frau, als sie die Geschichte dieser Flucht in dem Buch aufschrieb, das sie berühmt machte. Es hieß "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" (1971).

Zwar musste sich das rosa Kaninchen, das die Kinder in Berlin hatten zurücklassen müssen, diesen Titel mit Hitler teilen, aber nur zum Schein war der Tierdieb darin das Subjekt. Im Buch war er nicht mehr als eine unbequeme Hintergrundvoraussetzung, der Held aber war die Familie. Der Vater, in dem leicht der berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr wiederzuerkennen war, der gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Prag geflohen war, so wie hinter dem Mädchen Anna die Autorin. In der Schweiz trafen die Mutter und die Kinder, Schwester und Bruder, auf den Vater, von dort ging es nach Paris, mit immer knapperen Finanzen, bis zur Ankunft in England im Jahr 1936, an der Victoria Station in London.

"Ich wollte nicht über Hitler schreiben. Er war nur da."

Ja, Hitler war da, der Vater erfährt im Roman vom Suizid eines Freundes, es gibt zeitweilige schmerzhafte Trennungen, und auf der Flucht bekommt die jüdische Familie den Antisemitismus der Zeitgenossen zu spüren. Aber es gibt auch sehr viel Aufbruch in dem Buch, sehr viel kindliche Neugier, und das war die Intention der Autorin: "Ich wollte über meine Familie schreiben. Ich wollte nicht über Hitler schreiben. Er war nur da." Schneller als ihre Eltern lernte sie in London die englische Sprache, aber der Dieb hat ihr die deutsche Sprache nicht nehmen können. Das konnte das jugendliche Publikum in Berlin hören, als die alte Dame aus England ihr neues Buch vorstellte "Ein Seehund für Herrn Albert" (2016).

Auch dieses Buch ist aus Kindheitserinnerungen hervorgegangen, aus dem "roten Zimmer", in dem im Haus der Familie Kerr im Grunewald allerlei Sammelsurium abgestellt wurde, darunter Mitbringsel von den Reisen des Vaters. Über den ausgestopften kleinen Seehund, den die Nazis wie die gesamte Habe beschlagnahmten, erzählte der Vater, er habe ihn aus der Normandie im Zug nach Berlin mitgebracht. Dort habe der Seehund bis zu seinem Tod auf seinem Balkon gelebt. Das klingt wie eine der erfundenen Geschichten, die Väter an Dinge heften, nach denen Kinder fragen. Aber Judith Kerr beglaubigt im Nachwort das Motto ihres Buches: "Für meinen Vater, auf dessen Balkon einmal ein Seehund wohnte." Und auch die Alfred Kerr-Biografie von Deborah Vietor-Engländer hat diese Anekdote bestätigt.

Judith Kerr hat in diesem Alterswerk einen Junggesellen erfunden, der in einer Zeit lebt, in der noch der Milchmann mit seinem Pferdekarren von Haus zu Haus zieht, und seinen Kiosk verkauft, einen Vetter an der Küste besucht und einen kleinen Seehund rettet. Und sie hat eine Liebesgeschichte für ihren Junggesellen erfunden, eine Beinahekatastrophe im Zoo und einen Hauswart, der Jagd auf Tiere macht. Vor allem aber hat sie den Schluss der Anekdote geändert. Alfred Kerrs Seehund hielt das Leben auf dem Balkon nicht lange aus, er musste eingeschläfert werden. Alberts Seehund Charlie ergeht es deutlich besser.

Vor dem rosa Kaninchen führte ein exzentrischer Kater zu ihrem Durchbruch

Die englische Literatur ist reich an großartigen Kinderbüchern und reich an großen Zeichnern, die sie illustriert haben. Judith Kerr wurde in England berühmt, weil sie beides zugleich war, und auch in den Bilderbüchern, mit denen sie rasch großen Erfolg hatte, spielen immer wieder Tiere die Hauptrollen, schon vor dem rosa Kaninchen und der Romantrilogie über die Flucht, die Ankunft im Exil und die Kriegsjahre.

Der Titel, mit dem sie ihren Durchbruch hatte, "The Tiger who came to tea" (1968) war unverkennbar eine Hommage an ihr Gastland, das zur Heimat geworden war. Bald kam eine ganze Serie um den exzentrischen Kater Mog hinzu. Diese Bilderbücher waren auf eine Schwellenzeit im Leben der Kinder hin geschrieben und gezeichnet, sie waren an Kinder adressiert, die noch nicht flüssig lesen können, aber schon lesen wollen. Darum war der Wortschatz einem schmalen Lexikon entnommen. Und sie sollten den Kontrast herausfinden können zwischen dem, was die Wörter sagen, und dem, was die Bilder zeigen. Über den Kater Mog zum Beispiel sagt jemand: "Mog loves babys." Dass das nicht stimmt, kann ihm jedes Kind ansehen.

Judith Kerr wusste, wie es im Inneren britischer Kulturinstitutionen aussieht. Nach dem Besuch der Kunsthochschule hat sie bei der BBC gearbeitet, wie ihr im Jahr 2006 verstorbener Ehemann, der Fernsehautor Nigel Kneale. Sie war Engländerin, und sie blieb zeitlebens ihrer deutschen Herkunftswelt, der Welt ihrer Eltern, verbunden.

Kurz vor ihrem Besuch in Berlin im Jahre 2016 hatte sie gerade gegen den Brexit gestimmt. Sie gehörte mit allen Fasern ihrer Existenz zur Remain-Fraktion und setzte auf einen Witz, der nach dem Referendum kursierte: "Vielleicht bilden wir ein neues Land aus Schottland und London, ich glaube, Gibraltar würde auch mitmachen. Man wird sich da durchfinden, ich hoffe, dass es nicht so sehr anders wird." Am Mittwoch ist Judith Kerr im Alter von 95 Jahren in London gestorben.

© SZ vom 24.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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