Judith Hermanns Roman "Aller Liebe Anfang":Romantischer Trotz

Judith Hermann

Orientiert sich am lakonischen Geschichtenerzählen: Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann.

(Foto: Andreas Labes/S. Fischer Verlag)

Ihr erzählerisches Debüt "Sommerhaus, später" machte Judith Hermann 1998 über Nacht berühmt. Seither warteten ihre Fans auf den ersten Roman der Schriftstellerin. Nun ist er da. Doch in der hintergründigen Stalking-Geschichte "Aller Liebe Anfang" entfernt sie sich von ihrem bisherigen Stilideal.

Von Helmut Böttiger

Die Sätze sind noch kürzer geworden, die Stimme noch leiser. Sie ist nicht einmal mehr rauchig, sie scheint zunächst vollkommen tonlos zu sein. Und die Sätze nehmen sich programmatisch zurück, sie wirken zum Teil wie bloße Regieanweisungen: "Das Haus liegt in einer Siedlung am Stadtrand. Es ist ein einfaches Haus mit zwei Stockwerken und einem moosigen Ziegeldach."

Vereinzelte Gegenstände sind für den Requisiteur gleich mit angegeben: Herd und Spüle befinden sich unter dem Fenster, in der Mitte der Küche steht ein Tisch mit vier verschiedenen Stühlen. Hier wird so vieles ausgelassen, so vieles aufgespart, als ob von Anfang an die Devise lautete: Haushalten mit den Kräften, hier geht es um eine ganz lange Strecke. Denn als Gattungsbezeichnung für diese neue lange Erzählung von Judith Hermann wird explizit genannt: "Roman".

Und doch vibriert in diesen unscheinbar daherkommenden Sätzen eine nicht recht greifbare Energie. Ganz langsam wird versucht, einen Abgrund auszumessen, den man mehr ahnt, als dass man ihn genauer benennen könnte.

Auch Stella, die weibliche Hauptperson, aus deren Perspektive wir die Geschehnisse ziemlich hautnah mitverfolgen, kann das nicht. Und genau darum geht es in diesem Roman: wie in den Bühnenbildern einschlägiger Psychothriller beginnt sich eine Schlinge zuzuziehen.

Leseprobe

Einen Ausschnitt aus "Aller Liebe Anfang" bietet der Verlag hier.

Stella lebt in einem kleinen Siedlungshaus, am Rande einer nicht näher erkennbaren Stadt mit ihrem Mann Jason und ihrem Kind Ava. Es handelt sich um eine zeitlose Gegenwart, die nicht mit aufdringlichen zeitgenössischen Utensilien protzt.

In der Nähe von etwas Unwirklichem

Die betreffende Siedlung wird auch die "alte" Siedlung genannt, im Gegensatz zu einer "neuen" ganz in der Nähe.

Judith Hermann

Orientiert sich am lakonischen Geschichtenerzählen: Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann.

(Foto: Andreas Labes/S. Fischer Verlag)

Beschrieben wird vor allem die Straße, in der Stella wohnt, mit Häusern, denen man ihre Jahrzehnte bereits ansieht und die wohl deswegen in die Nähe von etwas Unwirklichem, Märchenhaftem rücken - vor allem bei dem Fahrradmechaniker, dessen in Reparatur gegebene Fahrräder man gleich stehen sieht, der ab und zu eine Speiche zieht und in seiner an Stiftersche Welten gemahnenden Handwerklichkeit notdürftig durch die asiatische Familie daneben in Schach gehalten wird. Oder durch die Studentin ein Haus weiter, die ihre Zimmer an wechselnde Personen untervermietet.

Hier scheint etwas fast zu stimmig zu sein

Am unheimlichsten aber ist "Mister Pfister", der sechs, sieben Häuser neben Stella wohnt: ein etwas heruntergekommener, ungefähr dreißigjähriger, undefinierbarer Mann, der eines Tages bei Stella klingelt und auf verstörende Weise über die Türsprechanlage um ein Gespräch mit ihr bittet.

Als Stella dies ablehnt, kommt er jeden Tag wieder, klingelt und hinterlässt Briefe oder auch Päckchen in ihrem Briefkasten. Sein erster Zettel hat etwas irrlichternd Poetisches, es scheint sich um keinen üblichen Stalker zu handeln, aber dann entwickelt sich zusehends etwas Bedrohliches. Er gibt genau seine Adresse an, unterschreibt mit "Mister Pfister" - auch dieser Name scheint aus einer sich entziehenden Kunst-Sphäre zu stammen, ein unheimliches, groteskes Wesen.

Stella beobachtet ihn oft hinter ihrem Fenster, wenn er klingelt, sich langsam eine Zigarette dreht und dann mit bedächtigen Schritten weitergeht. Offenkundig meint Mister Pfister nicht Stella als Person, sondern irgendeine ungewisse Vorstellung von ihr - das wird ihr spätestens klar, als sie ihn an der Kasse des Supermarkts entdeckt und ihm in dieser Alltagssituation fremd bleibt.

Aber er wirft ein irritierendes Licht auf ihre einigermaßen glückliche Beziehung mit Jason. Die beiden kennen kaum andere Leute in der Gegend, aber es gibt kleine, spröde Judith-Hermann-Stellen, die darauf hindeuten, dass hier etwas fast stimmig zu sein scheint.

Eine Geste zum Beispiel liebt Stella an Jason: wenn er sich mit der Hand vom Nacken aus über den Kopf fährt. Sie würde ihm das nie sagen, weil sie fürchtet, er würde diese Geste dann nicht mehr machen. Und mit ihr sprechen kann er eigentlich nur, wenn er Auto fährt. Er ist viel unterwegs, saniert und baut Häuser. Dass er oft weg ist, betont das Kammerspielartige des Textes, die durch Mister Pfister entstandene Atmosphäre.

Todesnähe fernab jeglicher Sentimentalität

Stella arbeitet als Hauskrankenpflegerin, und die drei bedürftigen Alten, die sie regelmäßig besucht, flackern wie aus einer harten sozialen Wirklichkeit in ihre Welt hinein. Auch sie haben, in ihrer bürgerlichen, künstlerisch angehauchten, verdämmernden Welt etwas Hochkonzentriertes; den realen Berufsalltag solch einer Pflegerin bilden diese Szenen kaum ab.

Die Schilderung dieser Todesnähe, dieses gelebten Lebens ist aber fernab jeglicher Sentimentalität. Es sind knappe Charakterstudien, die Stella wie beiläufig einen Spiegel vorhalten: Hat sie sich ihr Leben so vorgestellt, wie es jetzt ist? Hat die Irritation durch Mister Pfister etwas damit zu tun?

Eine Art romantischer Trotz

Manchmal ziehen Erinnerungen an Stellas Zeit mit ihrer Freundin Clara durch den Text, und diese bilden das geheime Zentrum. Vor zehn Jahren haben sie die Großstadt verlassen und jeweils eine Kleinfamilie gegründet. Clara ist immer noch Stellas wichtigste Bezugsperson. Sie telefonieren regelmäßig, schicken sich Briefe.

Die damalige Zeit mit Clara in der gemeinsamen Wohnung steht für das Ziellose, Unbeschwerte, das mit Ende zwanzig, Anfang dreißig auf dem Höhepunkt war, und eine zufällige Episode wird wie ein mythischer Moment eingestreut: die Straßenbahnbekanntschaft, die Stella wortlos mit in ihre Wohnung nahm.

Sie schlief nur einmal mit diesem Mann, sah ihn danach nicht mehr. Dieser Moment steht für die Möglichkeiten eines vergangenen Lebens, die sich plötzlich verstärkt durch die Kulissen des jetzigen schieben. Darum geht es in diesem Roman, der sich formal von den bisherigen Erzählungen losschreiben möchte, aber ihnen dennoch verhaftet bleibt.

Einmal erzählt Stella Ava eine Gutenachtgeschichte, und sie weiß, was Ava am liebsten mag: eine Geschichte, in der nichts passiert. Ohne Pointe, "eine Geschichte, die vom Gleichmaß aller Tage erzählt, davon, dass alles bleibt, wie es ist." Dies ist eigentlich auch die Sehnsucht Stellas, so möchte sie sich ihr Leben mit Jason vorstellen - doch dunkel ahnt sie, dass das nicht funktionieren wird. Mister Pfister ist da nur ein Auslöser.

Der Plot, der Showdown, die Sprache, all dies verdankt sich angloamerikanischen Anregungen, das lakonische Geschichtenerzählen, das das lodernde Zentrum nicht direkt zu beschwören braucht.

Doch ist Judith Hermann nicht Alice Munro. Sie schreibt nicht aus diesem einen Guss heraus. Dass sie jetzt einen Roman vorlegt, ist ein zusätzliches Indiz dafür: Alice Munro hat das vermieden. Was Judith Hermann ausmacht, ist etwas anderes und entfernt sich von jenem Stilideal, von den bösen Geschichten: Es ist eine Art romantischer Trotz.

Desillusionierter und verschreckter

Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Einmal sieht Stella ihr eigenes Zimmer mit Jasons Augen: das Bord "an der Wand, auf dem ein Kardinalsvogel aus Porzellan neben einer Schneekugel, einem goldenen Buddha und einer Reihe von Steinen aus dem Schwarzen Meer steht; Stellas Bücherregal, Stellas Schreibtisch, ihre Stifte und Kerzen, für Jason sicher alberne Räucherstäbchen, die Perlenketten am Stuhlbein, die Vogelfeder an der Wand und seit zwei Wochen das orangene Tuch im Fensterrahmen festgeklemmt und um den Fenstergriff geknotet, ein orangenes Tuch mit weißen Pfauen darauf."

Hier gibt es einen Sehnsuchtskern. Er ist an ein bestimmtes Lebensgefühl gebunden, an spezifische Generationserfahrungen. Judith Hermanns Figuren altern mit der Zeit. Ihre weiblichen Identifikationsfiguren werden erwachsener, also eigentlich romanhafter, doch bei ihr heißt das vor allem: desillusionierter und verschreckter. Eine gewisse Zeitdiagnose ist das schon. Aber die literarische Form dafür muss erst noch erschrieben werden.

Judith Hermann: "Aller Liebe Anfang". Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2014. 224 Seiten, 19.99 Euro, E-Book 17,99 Euro.

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