Frankfurter Poetikvorlesung:Nichts stimmt, aber alles ist wahr

Frankfurter Poetikvorlesung: "Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht." - Judith Hermann.

"Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht." - Judith Hermann.

(Foto: Thomas Frey/dpa)

Judith Hermann hält die Frankfurter Poetikvorlesung und begreift, dass sie ihren Analytiker zehn Jahre lang belogen hat.

Von Miryam Schellbach

Zum Auftakt der diesjährigen Frankfurter Poetik-Vorlesung gibt es eine Entschuldigung. Judith Hermann, deren Auftritt mehrfach pandemiebedingt verschoben werden musste, ist der Krieg in der Ukraine dazwischengekommen, da war das Manuskript längst fertig. Sie habe es nicht mehr "aufbrechen" können. Man wundert sich etwas über dieses Bekenntnis, denn in Judith Hermanns Romanen "Aller Liebe Anfang" und "Daheim" und besonders in ihren atmosphärisch verrätselten Kurzgeschichten geht es ohnehin selten bis nie politisch zu. Ihre Welt, sie besteht meist aus wenigen Personen in nervösen Konstellationen, die zueinander nicht kommen können oder beieinander waren und sich lieber schnell wieder entfernen. Judith Hermann ist die pointierte Erzählerin dieser Königskinder, nur sind die meist mondäne Großstädter mit sozialer Inkompatibilität und einem Hang zum Leiden an sich selbst.

Die Poetikvorlesung als solche verspricht einen Blick in die Werkstatt des Schriftstellers. Seit Jahrzehnten aber versuchen sich eben diese Schriftsteller darin, solche Einblicke zu verhindern. Als die Frankfurter Reihe 1959 mit Ingeborg Bachmann begann, geizte sie so sehr mit Privatinformationen, dass nur noch ihr Nachfolger Thomas Meinecke gut 50 Jahre später sie darin übertrumpfen konnte. Unter Verzicht eigener poetologischer Ausführungen recycelte der nonchalant, begleitet von Musik aus dem Plattenspieler, die Besprechungen seiner Bücher zu einer arg ermüdenden Kette literaturkritischer Einlassungen. Judith Hermann hätte dazu einiges beizutragen, nach einem irren Hype um ihre nüchterne Erzählweise Ende der Neunziger hat sie 2014 für "Aller Liebe Anfang" einen der bösesten Verrisse der vergangenen Jahre abbekommen.

In 1500 Therapie-Stunden habe ihr Therapeut nicht mehr als fünf Sätze gesprochen, dennoch habe sie sich in ihn verliebt

"Die Arbeit an dieser Vorlesung ist nicht einfach gewesen, auf dem Weg ist unerwartet Privates aufgetaucht", damit stellt nun Judith Hermann dem Publikum im Audimax der Frankfurter Goethe-Uni doch einen autobiografischen Einblick in Aussicht. Ein typischer Satz mit der aus ihrer Literatur bekannten Kombination aus Zögerlichkeit und Diskretion muss da folgen: "Es wird sich zeigen, ob das zu bereuen ist." In der ersten der drei Vorlesungen erzählte Judith Hermann von ihrem Psychoanalytiker, dem sie, zwei Jahre nach Ende ihrer Analyse mitten in der Nacht auf der Berliner Kastanienallee in einem "sogenannten Späti" begegnet. Über zehn Jahre lang habe sie bei ihm dreimal die Woche für 45 Minuten auf der Couch gesessen. In diesen mehr als 1500 Stunden, wie Hermann vorrechnet, habe ihr Therapeut zusammen nicht mehr als fünf Sätze gesprochen, dennoch habe sie sich in ihn verliebt, dann wieder entliebt. Dazwischen wurde ein Roman und viele Kurzgeschichten geschrieben, Freunde gefunden, andere Freunde unter die Erde und Kinder auf die Welt gebracht.

Judith Hermann nimmt diese unerwartete Begegnung zum Anlass, gedanklich in eine Zeit vor einem Vierteljahrhundert zurückzukehren, eine Zeit, "als es noch schneite, die Welt um uns herum noch schwarz-weiß und reine Poesie gewesen war". Sie begreift, dass sie ihrem Analytiker damals das Wesentliche, das Eigentliche stets verschwiegen hat, vielleicht, um es später noch schreiben zu können.

Das gezielte Aussparen von Informationen durchzieht Hermanns gesamtes Werk. In "Lettipark", dem Kurzgeschichtenband von 2016, den sie erst schreiben konnte, als sie ihre Analyse damals abrupt beendet hatte, wie sie jetzt erzählt, besucht eine Frau jahrelang einen Psychologen. Es geht in dieser Geschichte um die Aussicht aus dem Fenster der Praxis, um die Kleidung und musikalischen Vorlieben des Analytikers, darum, dass er einmal die Tür mit einem blauen Auge öffnet. Worum es nicht geht: Diagnosen, Gründe für Trauer und Einsamkeit, Heilung.

Auch in ihrer Poetikvorlesung ordnet sich die Autorin dem Begriff nicht unter. Judith Hermann referiert, als würde sie eine sehr lange Judith-Hermann-Kurzgeschichte vorlesen. Jahre später, als sie ihren Psychoanalytiker zufällig trifft, möchte sie wissen, wie ihm "Lettipark" gefallen hat. Der erkennt die unermüdliche Detailarbeit an. Schon beeindruckend sei das, "alles so zu verfremden, dass nichts mehr stimmt, aber alles wahr ist". Auch das könnte so oder so ähnlich in einer ihrer Geschichten stehen.

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