Antisemitismus:Dieses Buch sollte ein Weckruf sein

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Nicht nur virtuell, auch real steigen judenfeindliche Übergriffe und Attacken, Drohungen und Beleidigungen. Im Bild: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin. (Foto: picture alliance / Silas Stein/d)
  • Der Sammelband "Neuer Antisemitismus?" setzt sich in kritischen Beiträgen mit Antisemitismus auf linker und rechter Seite auseinander.
  • Er ist ein Beitrag zu einer globalen Debatte, die nicht neu ist - aber in letzter Zeit neue Aktualität erhalten hat.
  • Den Herausgebern gelingt es, ein Gesamtbild aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeichnen, ohne in Alarmismus zu verfallen.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Das Fragezeichen im Titel des Buches "Neuer Antisemitismus?" hätten sich die Herausgeber sparen können. In ihrem Vorwort stellen der Wiener Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici und der in Israel lehrende Soziologe Natan Sznaider fest: "Es gibt einen neuen Antisemitismus, der in den letzten Jahren an Macht gewann. In verschiedenen Städten Europas und der USA wissen sich Juden heute nicht mehr sicher. Dschihadistische Attentate gegen jüdische Institutionen haben zugenommen. Zugleich spielen in einigen Staaten autoritär-populistische Regierungen mit einschlägigen Ressentiments."

In diesem Sammelband finden sich dafür viele aktuelle Beispiele, auch wenn ein Teil der Texte bereits 2004 publiziert wurde. Darin liegt das Besondere dieses Bandes, in dem man wie in einem Werkstattbericht Entwicklungen nachspüren kann. Die noch einmal abgedruckten Beiträge und das von den Autoren eingeforderte Postskriptum sind gleichzeitig Dokumentation, Standortbestimmung und Fortsetzung einer Debatte, die durch politische Entwicklungen neue Aktualität erhalten hat.

Judith Butler sieht BDS als neue solidarische Allianz für mehr soziale Gerechtigkeit

Bei Judith Butler wuchs sich die geforderte kurze Aktualisierung zu einem neuen Essay aus. Dieser Beitrag, der für Diskussionen sorgen wird, geriet zu einem Plädoyer für die Unterstützung der BDS-Kampagne, also der internationalen Boykottbewegung gegen Israel. Die Professorin für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California in Berkeley ruft dazu auf, sich durch BDS - "Boykott, Divestment and Sanctions" - mit der palästinensischen Nationalbewegung zu solidarisieren und so den antirassistischen Kampf voranzutreiben. Ihr Argument: "Der Boykott richtet sich nicht gegen Juden, er zielt nicht auf israelische Bürger. Er zielt auf israelische Institutionen, die über die Macht verfügen, Druck auf die Regierung auszuüben, ihre verwerflichen Gesetze und politischen Maßnahmen bezüglich Palästina zu beenden." Sie sieht BDS als neue solidarische Allianz für mehr soziale Gerechtigkeit.

Den Grund, warum Unterstützung für BDS häufig mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, sieht Butler darin, "dass eine neue Definition von Antisemitismus als Antizionismus in den letzten Jahren sowohl in den USA als auch in Europa Fuß gefasst hat". Demnach stelle jede harte Kritik an Israel Antisemitismus dar. Für sie "wird Antisemitismus mittlerweile ausschließlich als eine Waffe aufgefasst, von der man Gebrauch macht, um Kritik an Israel abzuwehren". Sie wirft Israel Doppelzüngigkeit vor und verweist in diesem Zusammenhang mehrfach auf Steve Bannon, den früheren rechten Mitstreiter Donald Trumps: "Das Netanjahu-Regime kann Steve Bannon, der auf der Website Breitbart Nazis einen Diskussionsort bot, verzeihen, weil er ein erklärter Zionist ist."

Der 2010 verstorbene Tony Judt sezierte in seinem Beitrag die Unterschiede zwischen Antisemitismus und Antizionismus - also Feindschaft gegen Juden und Feindschaft gegen den jüdischen Staat. Er bezeichnet es als falsch, "dass in Europa Antizionismus und Antisemitismus synonym geworden" seien. In den USA dagegen dominiere die Einstellung, dass "antizionistische Haltungen in ihrem Ursprung antisemitisch sein müssen". Es werde kein Unterschied gemacht, ob jemand "gegen Israel" oder "gegen Juden" sei. "Tatsächlich ist der Graben, der Europäer von Amerikanern im Hinblick auf den Nahostkonflikt trennt, heute eines der größten Hindernisse für ein transatlantisches Einvernehmen", schrieb Judt.

Fast fünfzehn Jahre später würde man gern wissen, wie der amerikanische Historiker, der mit seinem Buch über die "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" ein Standardwerk verfasste, heute das Verhältnis zwischen Europa und den USA einschätzt. Und was hätte er wohl über Trump geschrieben?

Darauf geht Omer Bartov in seinem Postskriptum zu seinem grundsätzlichen Beitrag über "alten und neuen Antisemitismus" ein, der mit einer Warnung endet: "Wo die Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft." In seinem aktuellen Text bekennt der Historiker, der Satz "Noch nie sind die Juden wohlhabender, erfolgreicher und sicherer gewesen, als sie es heute in den USA sind", treffe nicht mehr zu. Er nennt das Massaker an elf Juden in einer Synagoge in Pittsburgh im Vorjahr als Beispiel dafür. Der US-Amerikaner warnt davor, dies "als die Tat eines Einzelnen abzutun". Vielmehr sei sie "das Ergebnis einer Politik der Anstiftung und der Lügen sowie der Verbreitung von Verschwörungstheorien durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten und der Männer und Frauen an seiner Seite". Bartov sieht "Mittäterschaft zahlreicher Mitglieder der Republikanischen Partei, die ihre ethischen und moralischen Prinzipien, ihre Werte für den kurzfristigen politischen Gewinn aufgegeben haben". Gleichzeitig wirft er den Demokraten und großen Teilen der Öffentlichkeit vor, Rassismus und Feindseligkeit zu wenig entgegenzutreten.

In mehreren Beiträgen setzen sich Autoren kritisch mit Antisemitismus auf der linken Seite auseinander. Sowohl der Wissenschaftler Brian Klug als auch der israelische Journalist Anshel Pfeffer gehen auf Entwicklungen in der Labour Party in Großbritannien, insbesondere unter Parteichef Jeremy Corbyn, ein. Michel Wieviorka zeichnet nach, wie sich der Antisemitismus in Frankreich neu konstituierte. In einem sehr persönlichen Beitrag schildert Jan T. Gross, welch "konstantem Schwall an antisemitischem Dreck" er in Polen nach dem Erscheinen seines Buchs "Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne" ausgesetzt war.

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Der Aufstieg der Rechten in Europa - ob in Polen, Ungarn, Österreich oder Deutschland - nimmt breiten Raum ein, und es gibt Wiederholungen, die sich bei Sammelbänden nicht vermeiden lassen. In mehreren aktuellen Beiträgen wie jenem von Moshe Zimmermann wird auch auf den muslimischen Antisemitismus eingegangen. Seiner Ansicht nach wird dem zu viel Aufmerksamkeit beigemessen, während "der alte Antisemitismus der westlichen Welt unterbelichtet und marginalisiert" wird. Der Historiker kritisiert auch den "sehr flexiblen Umgang mit der Kategorie israelbezogener Antisemitismus".

Gleich mehrere Autoren beleuchten den Aspekt, wie Israel - vor allem die rechtsgerichtete Regierung Netanjahu - damit umgeht. "Kritik am Regierungshandeln, Diskussionen über von den israelischen Streitkräften begangene Kriegsverbrechen, sogar der Verweis auf Menschenrechte und internationales Recht werden in Israel häufig nicht nur als antizionistisch, sondern als antisemitisch betrachtet", klagt Bartov. Der Historiker Dan Diner schlägt eine "gordische Lösung" vor: den Antisemitismus zu bekämpfen, als ob es keinen Nahostkonflikt gäbe; den Nahostkonflikt einer Lösung zuzuführen, als gäbe es den Antisemitismus nicht.

Der Entwicklung in der virtuellen Welt entsprechen in der realen judenfeindliche Übergriffe

Dass der Antisemitismus im digitalen Zeitalter tatsächlich zunimmt, belegt Monika Schwarz-Friesel mit einer Langzeitzeitstudie. Ein Team unter der Leitung der Professorin für Linguistik an der Technischen Universität Berlin hat 300 000 Texte - von Kommentaren in Onlinemedien bis zu Blogs - aus den Jahren 2007 bis 2018 ausgewertet. Das Fazit: "Weltweit nimmt die Codierung und Verbreitung von Antisemitismen, insbesondere über das Web 2.0 zu. Diese Entwicklung in der virtuellen Welt korreliert in der realen Welt mit judenfeindlichen Übergriffen und Attacken, Drohungen und Beleidigungen."

Dass die von vielen Juden gefühlte Zunahme an Antisemitismus sich wissenschaftlich bestätigen lässt, ist ein alarmierender Befund. Er belegt, warum das Fragezeichen im Titel des Sammelbandes überflüssig ist. Die Herausgeber haben aber Alarmismus vermieden. Ihnen ist es gelungen, ein Gesamtbild aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeichnen, das Anlass zur Sorge bietet. Ihr Sammelband liefert einen Beitrag zu einer globalen Debatte, die so neu nicht ist, aber neue Aktualität erhalten hat - in Deutschland etwa durch Äußerungen der AfD nach der Holocaust-Gedenkrede von Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Bartovs aktuelle Einschätzung - "dies sind nicht länger sichere Zeiten für Juden" - sollte ein Weckruf sein.

Christian Heilbronn, Doron Rabinovici, Natan Sznaider (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Suhrkamp -Verlag, Berlin 2019. 495 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 11.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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